Christoph Hein gilt als „Chronist ohne Botschaft“. Diese Charakterisierung begleitet ihn seit Anfang der 90er Jahre und ist so fest mit ihm verbunden, dass immer wieder angenommen wurde, es handele sich dabei um eine Selbstbeschreibung Heins als Autor. Man hält sie für eine literaturästhetische Grundorientierung seines Schreibens, die sich bis in seine aktuellen Romane hinein beobachten lasse. Chronist ohne Botschaft zu sein – das wurde so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal auf dem Literaturmarkt, mit dem man bestimmte, dem chronikalen Erzählen eigene Verfahrensweisen verbindet.
Das Problem an einer solchen Perspektive auf dem Autor ist nur, dass Hein sich selbst nie so bezeichnet hat. „Chronist ohne Botschaft“ ist zunächst nichts anderes als der griffige Titel eines Arbeitsbuches zum damaligen Gesamtwerk Christoph Heins, das 1992 veröffentlich wurde. Eingeleitet wird dieses Buch durch ein langes Interview, das der Herausgeber Klaus Hammer mit dem Autor führte, und in dem beide einen ausführlichen Blick auf die bis dahin vorliegenden Theaterstücke, Romane, Erzählungen, Esssays und Reden des Autors werfen. Hammer versuchte darin erkennbar, Heins Dramen und Prosa in eine Traditionslinie zu Brecht zu rücken und konnotierte in diesem Zusammenhang den seinerseits ins Spiel gebrachten Begriff der Botschaft mit Lehre, Intention, Veränderungsabsicht und dem ganzen Rüstzeug des Brechtsschen Theaters. Damit stieß er aber bei Hein auf wenig Gegenliebe, der bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit im Tonfall nachdrücklich bemerkte:
Bei „Lehre“ halte ich mich ein bißchen zurück, das geht so in Richtung Botschaft und Moral, was ich eigentlich für mich und mein Arbeiten ablehne. Ich will das Publikum nicht belehren und habe da auch wirklich keine Botschaft.
In dieser Äußerung finden wir wohl den Ursprung der nun schon mehrfach angeführten Bezeichnung. Aber man sollte sie mit Vorsicht betrachten. Heins Äußerung bezog sich im Gesprächskontext auf die Konzeption seiner Stücke, nicht auf seine Prosa. Da ist doch das Eine oder Andere anders gelagert. Vor allem aber darf man darauf hinweisen, dass Heins literarische Texte, egal ob Drama oder Prosa, alles andere als ohne Botschaft sind. Hein selbst hat keine Bedenken, als „aufgeklärter Moralist“ zu gelten. Wenn man vor diesem Hintergrund den Begriff von Botschaft von allen Attitüden des Lehrhaften entschlackt und ihn anreichert mit so etwas wie Haltung, eine Haltung, der moralische Grundüberzeugungen eigen sind, ohne auf eine „Moral“ reduziert werden zu können, die sich nicht im Plakativen didaktischer Griffigkeit artikuliert, sondern in dem in Erscheinung tritt, was Hein selbst als „Untertext“ bezeichnet, dann haben seine Werke durchaus eine Botschaft. Eine Botschaft, die ganz eng gebunden ist an die Rolle des Einzelnen in der Geschichte.
Warum aber wird die Leserin und der Leser dieses Beitrags, die auf eine Beschäftigung mit dem neuen Roman Trutz warten, hingewiesen, ja vielleicht gelangweilt mit der Erinnerung an ein Interview des Autors, das mehr als ein Vierteljahrhundert alt ist?
Durch den Roman Trutz zieht sich leitmotivisch eine Art metareflexive Ebene seiner Entstehung. Der Erzähler erwähnt immer wieder einmal, wie schwierig es gewesen sei, Einblicke in Archive zu bekommen, die Dokumente zugänglich machen könnten, um Ereignisse, Entwicklungen und Fakten absichern zu können, die aber verschlossen blieben. In einer Art Prolog berichtet er darüber, wie schwer es für ihn war, für ein anderes Projekt in bundesrepublikanischen Archiven zu recherchieren. Wer Heins Werke ein wenig kennt, weiß, dass er damit auf seinen 2006 erschienenen Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten anspielt.
Bei einem Vortrag, den der Erzähler in Trutz im Rahmen seiner Recherche besucht hatte, lernte er einen älteren Mann kennen, der über ein stupendes Detailwissen verfügte und sich offensichtlich sogar an marginale Kleinigkeiten erinnern konnte. Man kam ins Gespräch; der Erzähler lernte die Mnemonik kennen, eine Wissenschaft, die sich mit der Erweiterung von Gedächtniskapazität beschäftigt. So traf er hier auf Maykl Trutz, der in seiner Kindheit und frühen Jugend trainiert worden war, sein Gedächtnis zu erweitern, auf einen Mann, der das Vergessen verlernt hatte. Dessen Geschichte wendet sich der Erzähler nach dessen Tod zu und arbeitet sie auf. Seine Arbeit bezeichnet er selbst im Roman zwar spät (erst auf S. 332), aber unmissverständlich als die eines Chronisten.
Dass eine solche Selbstbezeichnung innerhalb eines literarischen Textes auftaucht, ist bei Hein eher selten. Mit Hilfe meines eigenen, eher (und im Vergleich zu den Hauptfiguren des Romans erst recht) bescheidenen Gedächtnisses würde es mich nicht wundern, wenn eine solche Äußerung sogar solitär wäre. Aber schon war sie da, die Erinnerung an den „Chronisten ohne Botschaft“, die mir zugleich nach rund einem Dreiviertel der Lektüre so gar nicht zu passen schien.
Erzählt werden die Lebensläufe dreier männlicher Hauptfiguren. Sie beginnen Ende der zwanziger Jahre, als der aus bäuerlichen Verhältnissen an der Ostsee stammende Rainer Trutz den elterlichen Hof verlässt und nach Berlin geht, um dort seinem kulturellen Bildungshunger nachgehen und schreiben zu können. Recht schnell lernt er durch Zufall eine russische Botschaftsangehörige kennen, die ihm die Türen in die intellektuellen Salons Berlins öffnet, schnell reüssiert er als Journalist und als Schriftsteller. Er veröffentlich zwei Romane, über deren Inhalt der Leser so gut wie nichts erfährt. Schnell lernt er Gudrun kennen, eine Gewerkschafterin und christliche Sozialistin, die er auch bald heiratet. Den Aufstieg des Nationalsozialismus nimmt er nur am Rande wahr. Dieses Phänomen scheint ihn nicht zu interessieren; man gewinnt den Eindruck, er versteht es auch nicht. Als er nach der sogenannten Machtergreifung ins Schussfeld der Nazis gerät, sieht er keine andere Wahl als aus Deutschland zu fliehen. Nachdem ihm Wege in den Westen verschlossen bleiben, flieht er mit Hilfe der Botschaftsangehörigen in die Sowjetunion. Während es seine Frau etwas besser antrifft, wird er zum Arbeitsdienst für den Moskauer U-Bahn-Bau zwangsverpflichtet. Seine Hoffnungen, bald wieder schreiben zu können, zerschlagen sich schnell.
In Moskau wird Sohn Maykl geboren. Zugleich lernen sie über Freunde den Wissenschaftler Waldemar Gejm und dessen Familie kennen. Gejm ist Institutsleiter und forscht an der Erweiterung der Gedächtnisleistung. Der Mnemoniker trainiert seinen eigenen Sohn Rem und Maykl Trutz von früher Kindheit an und entwickelt bei beiden ein schier unglaubliches Erinnerungspotential. Aber es ist, wie der Verlauf der Geschichte zeigen wird, nicht nur ein Potential, über das man nach Bedarf verfügen kann. Vielmehr wird Gedächtnis und Erinnerung zu einem Fluch, den man nicht abschütteln kann. Die Erinnerung bekommt etwas unerbittlich Unausweichliches. Sie ist ebensowenig abzuschütteln wie der Nazi-Vater, von dem sich Konstantin Boggosch in Heins letzen Roman Glückskind mit Vater nicht freimachen kann.
Beide Familien geraten in den Sog der stalinistischen Säuberungswellen. Rainer Trutz wird aufgrund eines Artikels in der „Weltbühne“, den er vor Jahren verfasst hatte, verhaftet, verurteilt und in ein sibirisches Arbeitslager deportiert, wo er alsbald stirbt. Waldemar Gejm verliert seinen Universitätsposten und wird mitsamt seiner Familie zum Arbeitsdienst in den Ural deportiert. Dort trifft er schließlich auch wieder auf Maykl Trutz und dessen Mutter. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird der mittlerweile junge Mann, dessen Mutter zwischenzeitlich auch verstorben ist, aufgefordert die Sowjetunion zu verlassen. Er geht in die DDR und arbeitet dort schließlich als Archivar, während Gejm im Laufe des poststalinistischen Tauwetters rehabilitert wird.
Als sich nach Jahrzehnten Maykl Trutz und Rem Gejm wiedertreffen, weiß der Leser inzwischen, dass Trutz in der DDR unter ähnlichen autoritären Willkürstrukturen leiden musste wie in der Sowjetunion. Ihre Wiederbegegnung rekonstruiert in den letzten Kapiteln des Romans eine Parallelentwicklung der Erinnerungsunterdrückung in den jeweiligen Ländern, in denen die beiden gelebt haben. Dass schließlich Rem Gejm unter mysteriösen Umständen in Moskau stirbt, dass das letzte BIld, das der Leser von Maykl Trutz mitnimmt, das eines Menschen ist, der an seiner Erinnerung verzweifelt, macht den Roman zu einem ausgesprochen bedrückenden Leseererlebnis. Seine Botschaft ist offensichtlich: Rücksichtslos geht die Geschichte über den Einzelnen hinweg, und da, wo er ihr in die Quere zu kommen droht, da wird er ausgelöscht.
Allein, die Botschaft überzeugt nicht. Und zwar nicht, weil sie in ihrer Ereignishaftigkeit nicht einleuchtet, weil sie quer stünde gegen individuelle und kollektive Erfahrungen, sondern weil sie so geschmeidig, so bruchlos erzählt wird. Das Problem dieses Romans besteht darin, dass er alles, wirklich alles dieser Botschaft unterwirft. Das schlägt sich zunächst einmal in den Figurenzeichnungen nieder. Die Figuren bleiben, vom gealterten Maykl Trutz vielleicht abgesehen, ohne Konturen, nahezu gesichtslos. Hein selbst gesteht ihnen in weiten Teilen auch keine eigene Geschichte zu. Zu bruchlos vollzieht sich zum Beispiel die Emanzipation Rainer Trutz‘ von seinem bäuerlichen Elternhaus; unbeantwortet bleibt die Frage, wie der provinzielle junge Mann dazu kommt, einen ersten Roman zu schreiben, der durch seine erotischen Akzentsetzungen lliterarische Aufmerksamkeit gewinnt. Zu glatt, ja geradezu idyllisch ist die Beziehung zu seiner Freundin und späteren Frau Gudrun. Man wartet an einigen Stellen nur darauf, dass Trutz seine Frau im rührendsten Fallada-Ton „Lämmchen“ nennt. Geradezu erschreckend, ja in ihrer riesengroßen Ignoranz unglaubwürdig ist die politische Naivität, mit der sich Trutz durch Berlin und später durch Moskau bewegt. Das Gleiche gilt für Waldemar Gejm. Man erlebt einen weltfremden Wissenschaftler, der nur für die Mnemonik zu leben scheint, ausgestattet mit einer politischen Gutgläubigkeit, wenn nicht Blindheit, die man einem Mann von diesem intellektuellen Format nicht abnimmt. Ungläubig steht man als Leser auch vor der Passivität und Schicksalsergebenheit, mit der die Figuren das ihnen angetane Unrecht akzeptieren. Als Maykl Trutz als Archivar in der DDR endlich einmal aufbegehrt und seinem sprechenden Familiennamen gerecht zu werden sich bemüht, befindet man sich schon im letzten Viertel des Romans und muss nach 20, 30 Seiten feststellen, dass es mit dem Aufbegehren nun auch wieder vorbei ist. Als er strafversetzt wird nach Wittenberge und seine Frau das zum Anlass nimmt, um nicht mitzugehen und stattdessen die Scheidung zu wollen, würde man als Leser gerne erfahren, was es denn konkret heißt, mit einem Mann zusammen zu leben, der nicht vergessen kann und der immer Recht hat. Man wünscht sich, dergleichen würde erzählt und nicht bloß behauptet.
Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Erzählton, den Hein über die gesamten knapp 480 Seiten durchhält. Dieser Ton hält jedes Ereignis auf eine gleich bleibende emotionslose Distanz. Er kalkuliert damit, dass aus der Differenz zwischen dem, was erzählt wird, und der Art, wie es erzählt wird, beim Leser eine Betroffenheit und Erschütterung entsteht. Das käme der „Untertext“-Ästhetik der gelungenen Prosawerke Heins nahe. Dieses Kalkül geht aber nicht auf. Der Erzählton erzeugt über weite Strecken keine Differenzerfahrung, sondern Langeweile, eine Langeweile, die auch nicht dadurch geringer wird, dass die chronikale Außenperspektive immer wieder einmal durch ausgesprochen hölzerne Figurengespräche unterbrochen wird. Mir ist unverständlich, wie ein solch profunder Autor wie Hein, der ja nun genuin ein Theaterautor ist, sich mit solch sterilen, sich immer wieder ins Trakthafte verlierenden Dialogen abfinden kann.
Der Roman kommt in der Erstrezeption des Feuilletons ausgesprochen gut weg. Die Zitate, mit denen der Verlag auf der Titeldetailseite zum Roman wirbt, sind ja nicht aus dem Zusammenhang gerissen und nach Gusto geklittert, sondern geben Zeugnis über die positive Resonanz. Der derzeit anscheinend unausweichliche Denis Scheck bezeichnet den Roman gar als „Jahrhundertroman in des Wortes wahrster Bedeutung“. In einer Reihe von Kulturressorts wird der Roman als „Buch der Woche“ oder als „Buch des Monats“ geführt, nur auf die SWR-Bestenliste hat er es nicht geschafft. Beeindruckt zeigen sich die Rezensenten von dem Panorama, das Hein in seinem Roman entwirft, und auf der Oberflächenebene des Romans darf man auch beeindruckt sein. Hein schickt seine Figuren durch drei Diktaturen, lässt sie im wiedervereinigten Deutschland beziehungsweise im Russland der Gorbatschow- und Nach-Gorbatschow-Ära ankommen und auch dort wieder scheitern. Das ist und bleibt in seiner historischen Genauigkeit beachtenswert. Nicht dass er Figuren zeigt, die hilflos sind im Malstrom der Geschichte, nicht dass sie Marionetten dieser Geschichte sind, macht die Blässe des Romans aus, sondern dass sie Marionetten des Autors bleiben, der an ihnen die unbarmherzige Grausamkeit von Geschichte zeigen will, der an ihnen eine Botschaft exerziert, das macht den Roman literarisch unbefriedigend. Weniger Botschaft hätte ihm gut getan.
Christoph Hein: Trutz. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2017 (25.- €)
Hin- und Nachweise
Es gibt zahlreiche Interviews und Lesungsausschnitte auf Youtube. Eine ansprechende Video-Dokumentation zum Roman bietet der MDR an.
Das im Artikel angesprochene Arbeitsbuch zu Christoph Hein ist nur noch antiquarisch erhältlich: Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie. Hrsg. von Klaus Hammer. – Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1992.
Die Vorlage für die Bildmontage im Beitragsbild zeigt, wenn man den Tags glauben darf, die Mauer eines Friedhofs in oder bei Moskau.