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Eckhard Fuhr: Schafe. Ein Portrait

Sachbücher finden selten Berücksichtigung auf diesem Blog, da muss es schon einen besonderen Grund geben. Das kann das Thema sein, dessen Darstellung oder auch die besondere Buchgestaltung. Kommt alles zusammen, dann kann ein solches Sachbuch eine Wirkung entfalten, die es von Literatur kaum unterscheidet. Es facht Erinnerungen an, erzeugt Vorstellungsbilder, macht sensibler für die gegenwärtige Umwelt und entwirft eine Perspektive ins Morgen.

Ein solches Buch ist Eckhard Fuhrs Portrait Schafe, das in der von Judith Schalansky herausgebenenen Reihe Naturkunden erschienen ist. Es folgt weitgehend dem Aufbau der dort versammelten Tier- und Pflanzenportraits und ergänzt diese ausgesprochen erfolgreiche Reihe höchst ansprechend. Wer schöne Bücher liebt, kommt an dieser Reihe kaum vorbei. Auch Schafe zeichnet sich durch eine Vielzahl kolorierter Abbildungen aus, die den Text nicht nur ergänzen, sondern sich bei genauerer Betrachtung in ein Wechselspiel mit ihm begeben, durch das Informationen nicht nur ergänzt, sondern auch kommentiert werden.

Fuhr, Abbildung
ein Beispiel für ene Druckseite, das dessen Qualität nicht abbilden kann

Dabei ist das Buch nicht nur ein optisches, sondern auch ein haptisches Vergnügen. Einband, Papier und Druck laden zum Anfassen ein, zum Drüberstreichen mit der Hand, vielleicht sogar zum Drüberstreicheln. Unvorstellbar, dass es dieses Buch als Ebook geben könnte.

Die schönste Ausstattung nutzt nichts, wenn der Text schal bleibt. Aber da kann der Leser vollkommen unbesorgt bleiben. Man merkt, dass der ehemalige FAZ- und Welt-Redakteur Eckhard Fuhr ein routinierter Schreiber ist, dem es gelingt, die Sachverhalte anschaulich, pointiert und ohne Rückgriffe auf sprachliche Klischees darzustellen. Er selbst ist, wie man auf der letzten Seite nachlesen kann, Jäger. Sein letztes Buch beschäftigte sich mit der „Rückkehr der Wölfe“ (2014), so sein Titel. Darin gab es schon ein Kapitel über das Verhältnis zwischen  Wolf und Schaf, und dieses Verhältnis bildet auch hier den Rahmen, in dem die Bedeutung des Schafes nachgezeichnet wird. Quasi über die Wölfe, dessen Rückkehr in die mitteleuropäische Kulturlandschaft er als ein Ereignis wahrnimmt, „dessen Tragweite sich durchaus mit dem des Falls der Mauer messen kann“, ist Fuhr auf’s Schaf gekommen.

Seine Schilderung bezeichnet er selbst als „Reise zu den Schafen“, eine Reise, die ihn nicht nur in andere Räume, sondern auch in andere Zeiten führt. Sie beginnt mit einem Besuch in der Berliner Nationalgalerie und der genauen Beschäftigung mit Caspar David Friedrichs Bild Der einsame Baum von 1822, auf dem eine Schafherde, scheinbar leicht hingetupft, die Auenlandschaft prägt. Fuhr erläutert, dass das Bild eine Kultur- und keine Naturlandschaft darstellt und macht deutlich, dass es die ohne die Schafe nicht geben würde. So zeichnet er dann über die folgenden rund einhundert Seiten nach, „wie Mensch und Schaf zueinander kamen“, so der Titel eines Kapitels. Verständlich wird dabei, in welcher Weise das Schaf unsere Zivilisations- und Kulturgeschichte geprägt hat. Fuhr zeichnet nicht nur den Niederschlag nach, den das Tier im Mythos fand, oder die christologischen Zusammenhänge des Agnus Dei, des Lamm Gottes, und dessen kúnsthistorischen Erscheinungsformen. Er informiert auch entlang historischer Fakten über die Rasseentwicklung des Tieres und insbesondere den Stellenwert, den das Merinoschaf für die Entwicklung der Schafzucht als Wollproduzent eingenommen hat. Über all dem scheint aber immer das Schaf als Charaktertier durch, dem sich Fuhr mit Sympathie und in weiten Passagen auch durchaus mit Bewunderung nähert. Nicht wie einst Altvater Alfred Brehm, der mit seinem anthromorphen Blick auf das „Thierleben“ meinte, das Schaf sei strohdumm, sondern mit dem Blick für ein Geschöpf, das sich in einer Art Zivilisationspartnerschaft mit dem Menschen bewegt, ohne sich zugleich ganz anpassen und damit ausbeuten zu lassen:

Es steht nicht in großen Tierfabriken. es hat sich fabrikmäßiger Nutzung bis heute entzogen, auch wenn seine Wolle ein Treibstoff der Industrialisierung war. Dabei kam ihm zugute, dass, anders als etwa bei Schwein, Rind oder Huhn, bei ihm durch Intensivierung keine erheblichen Ertragssteigerungen zu erzielen sind. Es wäre widersinnig, genügsame Schafe mit Kraftfutter in Ställen zu mästen. So ist das Schaf ein Weidetier geblieben und deshalb in seinem Dasein elementar verbunden mit dem Wechsel der Jahreszeiten und den Vegetationszyklen. Und deshalb vermittelt der Umgang mit Schafen auch elementares Wissen über das Land und seine Nutzung und damit über die stofflichen Grundlagen unserers Daseins.

Diese Bedeutung des Schafes als Leser nachvollziehen zu können, das ist die Leistung des schmalen und dennoch ganz großen Buches.

Nachbemerkung, die in der Form nirgendwo anders als auf einem Blog möglich ist

Meine Mutter, die im letzten Jahr in hohem Alter verstarb, liebte die Schafe. Sie waren ihr Erinnerung an schöne Erfahrungen einer Kindheit in den 1930er Jahren in einem kleinen, entlegenen Dorf im Rheinländischen. Zur Nebenerwerbslandwirtschaft gehörten damals auch drei oder vier Schafe, darunter ein Schafsbock. Der scheint, in den Geschichten zumindest, etwas eigen gewesen zu sein, wahrscheinlich wohl leicht zur Aggression neigend. Meine Mutter sei die einzige gewesen, trotz Eltern und zahlreicher Geschwister, die sich diesem Tier habe nähern können, ohne dass es sich widersetzt hätte. Diese prägende Erfahrung mit dem Tier und die Erinnerung an die Versorgung der Schafe, die wohl im wesentlichen in den Händen meiner Mutter lag, prägte ihre Erzählungen und die für sie schönen Erinnerungen bis ins Alter, ja noch, als die Demenz ihr schon weite Teile des Gedächtnisses geraubt hatte. Ich hätte mir gewünscht, meine Mutter hätte dieses Buch lesen können.


Eckhard Fuhr: Schafe. Ein Portrait. – Berlin: Matthes & Seitz 2017 (Naturkunden. 31; hrsg. von Judith Schalansky) (18.- €).

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