1975 war ich vierzehn Jahre alt. SIcherlich beseelt von einigen pubertären Verblendungen, die ich ziemlich erfolgreich verdrängt habe. Aber ich bilde mir ein, mich doch einigermaßen wach durch die sich immer mehr erweiternden Weltläufte bewegt und von dem, was mich umgab, doch das Eine oder Andere mitbekommen zu haben. Ich erinnere mich nicht nur daran, dass Deutschland ein Jahr zuvor Fußballweltmeister geworden war oder dass ABBA mit ihrem Mamma Mia-Album ihren endgültigen musikalischen Durchbruch schafften und ihre Weltkarriere starteten. Die Folgen der ersten Ölkrise, die sich daran anschließende Weltwirtschaftskrise, die Militärdiktatur Pinochets, die Stellungnahmen des Club of Rome, aber auch der Linksterrorismus und die Stammheimer Prozesse waren Ereignisse, die ich als junger Mensch, zu einem Teil sicherlich diffus, mitbekam und die dazu führten, dass man sich vorstellen konnte, wie die Welt nicht nur heute und morgen, sondern auch übermorgen aussehen könnte, wenn man an gewünschten Entwicklungen arbeiten oder andererseits die bedrohlichen nicht verhindern würde.
2015 Aber hätte ich mir 1975 vorstellen können, wie 2015 die Welt tatsächlich aussehen würde? Kaum. Unvorstellbar war für mich vor allem, in welchem Maße eine einzige technologische Entwicklung die Lebensverhältnisse der Menschen, und zwar nahezu weltweit und wahnsinnig schnell, verändern würde. Dass 40 Jahre später das Internet eine solch dominierende Bedeutung haben würde, lag damals vollkommen außerhalb meines Horizonts, nicht zuletzt deshalb weil ich dafür auch keine Begriffe gehabt hätte. Und dennoch erscheint es mir, erscheint es wahrscheinlich den meisten von uns heute spontan als eine vollkommen organische und logische Enwicklung, die wir in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durchlaufen haben.
2055 Und noch einmal vierzig Jahre später? Im Jahr 2055 also? Das ist wohl genau die Frage, der Eugen Ruge in seinem neuen Roman Follower nachgeht. Die Welt, die er darin entwirft, setzt keine technologische Revolution voraus, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Es gibt keinen Warp-Antrieb, wir bewegen uns nicht in anderen Galaxien, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat, es gibt kein Galaxien umspannendes autoritäres Imperium, gegen das sich aufrechte Rebellen zur Wehr setzen. Es gibt also nichts Neues außer das, was sich aus dem bisher Bestehenden mit einiger Stimmigkeit ableiten lässt. Aus Nationalstaaten sind Wirtschaftszonen geworden, die von großen Konzernen regiert werden. So wurde aus der Bundesrepublik „D/E.ON/SBI“ aus den Vereinigten Staaten „USA (MAT&T-Group)“ aus der Volksrepublik China „HTUA China“. Australien ist nahezu entvölkert; dort werden regelmäßig Bomben gezündet, um mit ihnen das Klima auf dem Globus beeinflussen zu können. In-Vitro-Fleisch ist der große Renner auf dem Nahrungssektor. Man kommuniziert nicht mehr mit dem Smartphone, sondern über eine multimediale Datenbrille, die „Glass“. Die wiederum ist über Haarsensoren direkt mit Hirnarealen ihrer Trägerin oder ihres Trägers verbunden. Eine Gesundheits-App überwacht akribisch die eigene physiologische Befindlichkeit. Erinnerungen an Matrix werden wach.
Man könnte die Aufzählung leicht um ein Vielfaches ergänzen. Eugen Ruge brennt geradezu ein Feuerwerk an Ideen ab, die die technologischen Standards von heute und ihre Folgen einfach nur weiterdenken. Dem zu folgen, bereitet lange großen Lesespaß, ist ebenso faszinierend wie erschreckend. Denn schnell ist klar: in einer solchen Welt wie die, die dabei entsteht, möchte ich nicht leben. Aber hätte ich vor vierzig Jahren über die heutige Welt anders geurteilt? Als Vierzehnjähriger vielleicht, doch im jetzigen Alter?
Welt von morgen
In dieser Welt im Jahr 2055 aber lebt Nio Schulz. Sein Name bleibt allerdings die einzige Reminszenz an die Filmfigur. Er ist knapp vierzig Jahre alt, kommt aus „D/E.ON/SBI“ und ist von Beruf das, was man vor vierzig Jahren einen „Vertreter“ genannt hätte, heute wohl als „Sales Manager“ bezeichnen würde. Denn er ist in „HTUA-China“ unterwegs, um eine neue Geschäftsidee auf dem dortigen Markt zu etablieren. Das „true barefoot running“ ist eine Art Gummiband, das um den Fuß getragen wird und das Gefühl simulieren kann, barfuß zu laufen. Sich einfach nur Schuhe und Socken auszuziehen, reicht eben nicht mehr, um authentische Körpererfahrungen machen zu können. Und weil das nicht reicht, wird daraus ein Geschäftsmodell. Ruge schildert derlei Warenwelt mit großer Freude an der satirischen Überspitzung, Da gibt es nicht nur essbare Zimmermädchenkostüme oder fluoreszierende Federbälle, mit denen man eben auch noch im Dunkeln spielen kann, sondern er schickt die Hauptfigur durch Malls, die über zahlreiche Geschoße in die Tiefe gebaut wurden und das Scheinhafte der Warenwelt ins Gigantische, ja Monströse erweitern. Dagegen erscheint die Mall of Berlin als Tante-Emma-Laden.
Die eigentliche Handlung des Haupterzählfadens beschränkt sich auf wenige Stunden, in denen sich Nio aufmacht von seinem Hotel zu einem Geschäftstreffen. Der Leser begleitet ihn auf dem Weg dorthin, wo er nie ankommen wird. Der Roman hat einen Untertitel: „Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel“. Er weist auf ein zentrales Formprinzip. Jedes dieser Kapitel besteht aus einem einzigen langen Satz, der als eine Art Bewusstseinsstrom der Hauptfigur fungiert, aber auch immer wieder auktoriale Kommentare einmixt in die Abfolge von Gedankensplittern, Assoziationen, über die Glass einfliegende Nachrichten und Beobachtungen. Diese Formentscheidung leuchtet geraume Zeit nicht ein. Man fragt sich, warum scheinbar willkürlich Kommata gesetzt werden, wo ein Punkt hingehören würde, warum die Sätze, mögen sie auch zum Teil noch so hypotaktisch sein, nicht als solche markiert werden. Kurz gesagt: es scheint, als bliebe dieser Kunstgriff künstlich. Doch je länger man Nio lesend folgt, desto fragiler wird der Satzbau bis Sätze ins Leere laufen, der Satzbruch zum zentralen Stilmittel mit, bloße Wortfolgen immer häufiger vorkommen. Deutlich wird, wie im Infomationsüberfluss, im Gemenge von Kurznachrichten, Twitter-Meldungen (wenn es denn noch Twitter ist), simultan geführten Telefongesprächen und dem multimedialen Beschuss durch die unmittelbar erlebte Werbewelt die Wahrnehmungskapazitäten des Individuums überfordert werden. Bis schließlich das Hirn kotzt. Nio tickt regelrecht aus und flieht auf einem Elektroroller, raus auf’s Land. Als der Roller streikt, geht er weiter, zufuß, barfuß, zurück, wie es scheint, in die eigene Kindheit, dorthin, wo „man leise das Zing-Zing von Großvaters Sense“ hört.
So endet der Roman. Noch ist aber nicht alles Wesentliche gesagt. Unterbrochen werden die vierzehn Kapitel immer wieder von fiktiven Dokumenten aus dem Bundeskriminalamt oder der sogenanten EUSAF, der „European Security and Anti-Terror Facilities“, die in enger Zusammenarbeit mit dem chinesischen Geheimdienst dem Verschwinden von Nio Schulz nachgehen. Offensichtlich darf es nicht sein, dass ein Mensch einfach vom Radar der Überwachungsinstitutionen verschwindet, selbst wenn es sich nur um einen Vertreter/Sales Manager handelt. Diese Dokumente konkretisieren sehr anschaulich den Grad der Überwachung, dem der Einzelne ausgesetzt ist. Sie belegen aber auch, dass die Überwachung nicht lückenlos erfolgen kann. Denn man findet Nio nicht. Ein kleines Detail am Rande: Leiter der Abteilung in der EUSAF, die nach Nio Schulz sucht, ist ein „D. Scheck“. Man erfährt nicht viel mehr von dem Mann, als dass er sicherlich zu den Hardlinern gehört, die konsequent die Überwachungslücken zu schließen beabsichtigen. Aber irgendwie kann man ihn sich dann doch vorstellen: Krawattenträger, Einstecktuch und eine ausgeprägte Vorliebe für orangefarbene Socken vielleicht.
Ein letzter Aspekt muss erwähnt werden. Die Romanhandlung spielt im Jahr 2055, aber sie beginnt nicht dort. Genau genommen beginnt sie unmittelbar nach dem Urknall. Als der „information overflow“ Nio Schulz auf seinem Weg zum Geschäftstermin zu überfordern droht, kurz vor dem Showdown also, aber auch als beim Leser bei allem Einfallsreichtum, mit dem diese schrecklich alt-neue Welt ausgestattet wird, die Eindrucksschilderungen zu Ermüdungserscheinungen führen, unterbricht Ruge den Erzählfluss und erzählt auf rund fünfzig Seiten die Geschichte der Vorfahren. Das Kapitel trägt den Titel „Genesis/Kurzfassung“. Dabei klärt sich nicht nur das Verhältnis zwischen Nio und seinem Großvater Alexander Umnitzer. Dieses literarische Alter ego des Autors kennt der Leser schon aus Ruges Debüterfolg „In Zeiten abnehmenden Lichts“ (2011), so dass man fast annehmen könnte, Ruge schreibe in gewisser Weise die Familiensaga fort. Doch gerade das Genesis-Kapitel zeigt: Was Familie zu sein scheint, ist nur das Produkt einer Kette von Zufällen. Was mit dem Blick zurück fast wie eine Entelechie anmutet, ist mit dem Blick nach vorne flüchtig. Dass dann im ökonomisch-medialen Rausch des Jahres 2055 das Ich selbst flüchtig ist, ist nur konsequent.
Der Versuch, den Roman zu bewerten, zeigt mich etwas hilflos. Die ihm eingeschriebene düstere Zeitanalyse hat mich beeindruckt. Eugen Ruge aufgrund dessen zu einem „der scharfsichtigsten Analytiker der Gegenwart“ zu erklären, wie es Hans-Dieter Fronz in der TAZ getan hat, geht mir jedoch zu weit. Er geht mir zu generös über einige Schwächen und Längen hinweg, die die Lektüre doch ab und an ein wenig ermüdend machen. Andererseits kann ich Gerrits offenkundig werdende Langeweile bei der Leküre, die er auf Zeilensprünge festhält, auch nicht nachvollziehen. Dafür steckt in dem Roman zu viel Erhellendes, das des vertieften Nachdenkens allemal wert ist. Am besten also: Selbst lesen!
Eugen Ruge: Follower: Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel. Roman. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2016 (22,95 €)