Im Februar 62 n. Chr. kam es in Pompeji zu einem furchtbaren Erdbeben. Große Teile der Stadt müssen danach in Trümmern gelegen haben. So zumindest vermerkt es Tacitus in seinen „Annalen“ so ganz nebenher, beinahe so, als sei es keiner Nachricht wert. Was beim Ausmaß der archäologisch nachweisbaren Zerstörungen gar nicht vorstellbar ist. Auch Menschen werden zu Schaden gekommen, getötet worden sein. Das schien aber den römischen Senator, der Tacitus war, nicht zu interessieren. Nicht wissen konnte er, worin sich Historiker, Archäologen und Geologen heute offenbar einig sind, dass nämlich dieses Erdbeben und die damit einhergehenden tektonischen Verschiebungen den rund 17 Jahre späteren Ausbruch des Vesuvs wesentlich verursachten und in den Folgejahren im Umfeld des Vulkans die Gefahr, es könne noch schlimmer kommen, immer schwelte. Uneinig ist man in der Forschung hingegen in der Frage, wie zügig sich die Stadt von dieser Katastrophe in den Folgejahren erholte, ob sie schnell wieder prosperierte oder ob es etwa zu einer sich beschleunigenden Verarmung und Proletarisierung kam.
In Eugen Ruges Roman Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna ist die soziale Lage in Pompeji weniger uneindeutig. Die Geschichte, die ein immer wieder kommentierend eingreifender, weitgehend auktorialer Erzähler erzählt, beginnt „fünfzehn Jahre nach dem Großen Beben“, also im Jahr 77 n. Chr., und endet mit der Auslöschung der Stadt nach dem Vulkanausbruch. Sie umfasst also rund zwei Jahre. Die Stadt zeigt infrastrukturelle Defizite und soziale Verwerfungen. Teile, vor allem im Norden der Stadt, liegen noch immer in Trümmern. Die Wasserversorgung ist schwierig, weil störungsanfällig, unzuverlässig und nicht flächendeckend in allen Stadtteilen. Eine breite Schicht der Bevölkerung lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze; so auch die Mutter der Hauptfigur Josse. Unzweifelhaft ist, dass in den letzten Jahren seit dem Erdbeben doch von Seiten der politisch Verantwortlichen manches versäumt, einiges verschlampt und mehr noch verschleppt worden ist. Teile der Stadt wurden zu Spekulationsobjekten.
Mit dem Erdbeben beginnt auch die Geschichte Josses, eine Geschichte in Stationen: vom Außenseiter zum Aussteiger zum Aufsteiger. Wer den Eindruck gewinnt, dem sei bestätigt: Ja, es erinnert an das kapitalistische Aufsteigernarrativ vom Tellerwäscher zum Millionär. Es endet aber nicht mit dem Erreichen der erfolgs- und geldgestützten Anerkennung; die Naturkatastrophe von 79 n. Chr. steht dem entgegen. Das darf man spoilern, weil nicht nur die historisch verbürgte Faktenlage, sondern auch Buchcover, Klappentext und Vorrede des Erzählers das Ende ohnehin vorwegnehmen.
Eigen ist diesem Josse eine für pompejische Verhältnisse durchaus typische Zuwanderungsgeschichte. Sein eigentlicher Name ist Jowna. Seine Eltern waren aufgrund permanenter Kriegswirren aus Pannonien geflohen, sein Vater war dann in Pompeji zunächst Metzger, nach dem Bankrott seines Geschäfts Handlanger. In durchaus prekären Verhältnisses lebend, prägte die Familie offensichtlich ein großes Assimilationsbedürfnis. Aus diesem Bestreben resultierte der dritte Name des Jungen, Josephus, den die Eltern bei seiner Einschulung so nannten, damit er als Römer wahrgenommen werden konnte. Josse aber war schließlich und blieb sein Rufname, den der Heranwachsende sich auf der Straße und unter den Freunden verdiente, nachdem der Vater verstorben war und die Schule vernachlässigt wurde. Auf der Straße wurde er zum Anführer einer kleinen Bande von Jungs, man würde sie heute wahrscheinlich als Gang bezeichnen. Sein zentraler Bezugsort wurde die Große Palästra, wo er seine physische, aber auch seine mentale Fitness trainieren konnte im Rahmen dessen, was wir wohl ein öffentliches Sozialprogramm nennen würden.
Schließlich kommt Josse gemeinsam mit seinen Freunden in Kontakt mit dem sogenannten Vogelschutzverein. Dieser Verein hat aber viel weniger ein ornithologisches Interesse, sondern bietet vielmehr ein Dach für jene, die – verbotenerweise – politisch-philosophische Themen öffentlich diskutieren wollen. Beim Besuch einer Veranstaltung dieses Vereins werden die jungen Männer mit der Annahme konfrontiert, ein Vulkan könne ausbrechen und die Existenz von Pompeji bedrohen. Hier nun tritt Josse zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung mit einer Äußerung, die später als seine erste große Rede verklärt werden wird, die genau genommen allerdings nur aus einem gestammelten Satz besteht.
Wenn man das hier ansieht, zusammenfassend, kann man wohl nur, als Außenstehender, eine Schlussfolgerung ziehen, und das wäre, dass uns, den … äh … somit Betroffenen, da der Berg sich kaum von der Stelle bewegen wird, wohl kaum etwas anderes übrig bleibt, als uns selbst von der Stelle zu bewegen.
So entsteht rund eine Stunde Maultierritt von Pompeji entfernt, direkt an der Küste und in vermeintlich sicherer Entfernung vom Vulkan, die Kolonie „Fenster des Meeres“. Schnell bilden sich in dieser Aussteigergemeinschaft Meinungsverschiedenheiten über die ideologische Ausrichtung ihres Zusammenlebens. Sie entzünden sich vor allen Dingen an der Frage, ob diese Kolonie ein dauerhaftes Provisorium bleiben oder ob Häuser errichtet werden sollen. Als sich die letzte Haltung durchsetzt, spült es Josse an die Spitze der Bewegung. Der wiederum hatte Kontakte zu einem pompejanischen Bauunternehmer geknüpft, der in der neuen Kolonie ein ertragreiches Geschäft wittert.
Gleichzeitig fürchtet das Establishment von Pompeji zunehmend, das ganze Bevölkerungsteile in die Kolonie abwandern könnten, die Immobilienpreise fallen und Pompeji immer weiter verfallen würde. Dies zu verhindern, wird Josse nach Pompeji zurückgelockt, um mit seiner gestiegenen Popularität die Menschen wieder in die Stadt zurückzuholen. Man müsse, so Josses 180-Grad-Kehrtwende, lernen, mit dem Vulkan zu leben.
Hier kann die Inhaltsskizze enden. Denn deutlich wird hoffentlich, dass Pompeji ein Roman über einen Aufsteiger ist – und einiges mehr. Es ist eine Geschichte über Korruption, über Macht und – was offensichtlich immer mit ihr einhergeht – Machtmissbrauch; eine Geschichte über Ignoranz und Eskapismus, über Hybris und fatale Fehleinschätzungen, über das Leben in Endzeiten, ohne Bewusstsein dafür. Pompeji ist wie die Titanic, der Eisberg ist ein Vulkan.
Erzählerisch werden die Fäden durch einen immer wieder kommentierend eingreifenden Erzähler überzeugend zusammengehalten. Wir erfahren nicht viel von ihm, sieht man von dem Umstand ab, dass er die Katastrophe überlebt haben muss. Er dokumentiert die Ereignisse in einer Mischung aus heiterem Darüberstehen und deutlichem Angewidertsein von den Machenschaften und Intrigen. Die so geschaffene ironische Distanz führt zu Schilderungen, die oft grundkomisch sind, wie etwa ein Besuch bei Plinius, dem Älteren, und die szenisch sehr genau Denkweisen entlarven, wie etwa eine Ankleideszene von Lydia, der zentralen Frauenfigur des Romans. Ohnehin ist Pompeji da am überzeugendsten, wo bildreich, plastisch und mit einem feinen Gespür für die Bedeutung des Konkreten erzählt wird. Aus der Art des Erzählens entwickelt der Roman seine Leseanreize. Da ist es dann auch egal, dass der Ausgang der Geschichte bekannt ist.
Wäre da nicht …, ja, ganz ohne Einschränkungen kommen wir dann doch nicht aus. Sexuelle Beziehungen und damit einhergehend explizite erotische Beschreibungen nehmen in Pompeji einen breiten, im Vergleich zu Ruges bisherigen Romanen sehr breiten Raum ein. Das mag einer Atmosphäre geschuldet sein, die dem für den Roman vor Ort recherchierenden Autor in den Wandzeichnungen der Ruinen entgegenschlug. Spekulation! Wenn es so wäre, wäre es auch nicht zu kritisieren. Wenn aber Sex und Macht so unmittelbar aufeinander bezogen werden, dann läuft die ansonsten so facettenreich entwickelte Untergangsanalyse doch Gefahr, etwas unterkomplex zu geraten. Und das hat sie nicht verdient.
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Roman. – München: dtv 2023.
Diskussion um Eugens Ruges Pompeji im Literarischen Quartett
Bildnachweis
Das als Folie für das Beitragsbild dienende Foto aus Pompeji ist von Iyad Al Ghafari auf Pixabay.