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Friedrich Ani: Der namenlose Tag

Würde man gefragt, mit welchen Farbassoziationen man Friedrich Anis Roman verbinden würde, so würde man ganz sicher sofort an die Farbe Grau denken, Grau in nahezu all seinen Abschattierungen. Die dominierende Grundfarbe wäre dabei allerdings nicht Weiß, sondern Schwarz. Selten drängt sich deshalb so stark der Eindruck auf, dass Bucheinband und Buchumschlag zum Erzählten passt wie hier. Wäre da nicht … doch dazu kommen wir am Ende.

In seinem neuen, jetzt bei Suhrkamp erschienenen Roman stellt Ani seinen Lesern seine nunmehr vierte Ermittlerfigur vor. Nach Polonius Fischer, Jonas Vogel und vor allem Tabor Süden tritt mit Jakob Franck nun ein Kommissar auf, der in einem weit zurück liegenden Fall recherchiert, in den er vor rund zwanzig Jahren selbst einbezogen war. Damals hatte sich, so schien es, ein siebzehnjähriges Mädchen, Esther Winther, in einem Park erhängt. Die Polizei fand keine Anhaltspunkte, die auf ein Verbrechen hindeuteten. Franck hatte damals die Aufgabe, die Todesnachricht der Mutter zu überbringen. Die Erinnerung daran zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Roman, denn die Mutter brach bei der Nachricht zusammen und klammerte sich sieben Stunden an seine Schulter, während er dabei ruhig stehen blieb und der Frau die Stütze gewährte, die sie in diesem Moment brauchte.

Dieses Verhalten sagt eigentlich alles Wesentliche über die Hauptfigur aus. Sie ist und bleibt während des gesamten Romans ein gebrochener, in seinem Verhalten manchmal befremdlicher Sympathieträger. Jakob Franck hat seine Eigenheiten, ja etwas Schrulliges. Er fährt einen uralten Ford, wohnt alleine, ist seit mehreren Jahren geschieden, pflegt aber ein sehr vertrautes und freundschaftliches Verhältnis zu seiner Ex-Frau, die in einer Seitenstraße abseits der Geschäftsströme eine kleine, aber mittlerweile durchaus etablierte Buchhandlung betreibt. In seiner Wohnung pflegt er ein Privatarchiv seiner alten Fälle, was angesichts heutiger Datenschutzbestimmungen zumindest überrascht. Vor allen Dingen aber hat Franck einige besondere Fähigkeiten. Eine dieser Fähigkeiten erinnert frappant an die der weiblichen Hauptfigur aus Peter Høegs fast zeitgleich erschienenen neuem Roman „Der Susan-Effekt“: Er bringt die Menschen um ihn herum zum Reden. Dadurch entsteht zwar auf deren Seite anders als bei Susan keine spontane, geradezu unvermeidbare Aufrichtigkeit, aber Franck gelingt es durch seine Art, auf sein Gegenüber einzugehen, dass sie schließlich das sagen, was sie bewegt,  den Fall dadurch weiterbringen und schließlich zur Aufklärung beitragen.

Seine zweite Eigenart ist die Methode seines Vorgehens, die er selbst als „Gedankenfühligkeit“ bezeichnet; eine seit Jahren geradezu trainierte Form von intuitiver, psychophysischer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fall:

Eines Morgens entschied Franck, nicht ins Dezernat zu fahren; er schloss die Tür seines Arbeitszimmers, nahm die blaue Wolldecke von der Couch, breitete sie auf dem Parkett aus, legte sich hin, streckte die Arme und Beine von sich und fing an, seine Gedanken an die weiße Zimmerdecke zu projizieren und gleichzeitig darauf zu achten, was er bei jedem Puzzleteil empfand; als würde er einen Film zu ersten Mal sehen, neugierig darauf, ob das Geschehen ihn vom distanzierten Zuschauer in einen Sinnenmenschen verwandeln würde.

Er durfte, dachte er, nicht bedenken, was er dort oben auflistete; er musste das Schreckliche, Unbegreifliche, Unzusammenhängende, das Chaos und das Labyrinth des Verbrechens als etwas Natürliches wahrnehmen, das ihn berührte wie eine Hand oder der Anblick des Meeres als Kind.

Er durfte, dachte er, kein Kriminalist sein, um die Wahrheit dieses Falles zu erkennen; er musste versuchen, sein erlerntes Wissen zu vergessen und auf die Reaktionen seines Körpers zu vertrauen, auf die Botenstoffe seiner Zellen.

Irrational kann man nicht nennen, was er da treibt, dafür ist das bewusst Inszenatorische der Vorgehensweise zu groß. Es ist eher ein Ausdehnen des Empathischen auf etwas Ganzheitliches, aus dem heraus sich Franck der Wahrheit nähern will. Das macht ihn zum Melancholiker.  Zudem bezahlt er einen hohen Preis für diese Art mit Kriminalfällen umzugehen: sie lassen ihn nicht los.

Die Toten hielten sich nicht an den Tag der Toten; sie kamen, wann immer es ihnen passte, und sie bleiben über Nacht, manchmal zu zweit – meistens einer alleine -, als hätten sie verabredet, einander weder Raum noch Zeit zu stehlen, oder aus Respekt vor der Würde des anderen.

Über solche Fragen dachte Jakob Franck seit Jahren nach, und er erwartete keine Antwort. Die Anwesenheit der Toten war für ihn Erklärung genug. […]

Ihm war bewusst, wie abseitig er sich verhielt; doch in all den Jahren hatte er noch keine Methode gefunden, wie er den Gespenstern seiner Vergangenheit begegnen sollte, ohne sich lächerlich zu machen, indem er seinen Schrecken mit Kopfspielchen verhätschelte wie ein Kind im dunklen Kohlenkeller.

Ein solches Gespenst wird nun, zwei Monate nach seiner Pension wieder sehr lebendig. Der Vater des vor zwanzig Jahren verstorbenen Mädchens wendet sich an ihn und bittet Franck, den Fall noch einmal zu untersuchen. Er artikuliert den Verdacht, seine Tochter habe keinen Selbstmord begangen, sondern sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Jakob Franck nimmt, nunmehr als Pensionär natürlich  inoffiziell, den Fall wieder auf und begibt sich wieder in die Rolle des Ermittlers.

Immer mehr erschließt sich durch seine Recherchen und vor allem in den zahlreichen Gesprächen, die Franck führt, ein Familiengefüge, in dem alle Beteiligten zutiefst beschädigt sind. Ani entfaltet die Zusammenhänge behutsam und versteht geschickt, unterschiedliche Verdachtsmomente aufscheinen zu lassen und daraus Erzählstränge zu entwickeln. Das erzeugt eine durchaus krimitypische Spannung, aber mehr noch als das sind es die Geschichten und Schicksale, die den Leser mitnehmen – und das in einem durchaus doppelten Wortsinne.

Dieser Roman, der eine überraschende Auflösung bereit hält und sich bei der Aufklärung aller reißerischer Effekthascherei enthält, zeigt im Ermittler nicht nur einen Melancholiker, sondern blickt in seiner Gesamtheit selbst beinahe melancholisch auf die Welt. Er bliebe grau, wären da nicht gegen Ende des Romans die leuchtend farbigen Blusen von Francks Frau in ihrer Buchhandlung, die der Hauptfigur und dem Leser entgegenzustrahlen scheinen wie ein ein Trotz allem.


Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck. – Berlin: Suhrkamp 2015 (19,95 €)