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Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…

Irgendetwas hindert daran, der Marquise von O…, dieser „Dame von vortrefflichen Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern“, wie es gleich am Anfang der Erzählung heißt, zu trauen. Was dieses Misstrauen auslöst, ist schwer zu beschreiben, vielleicht nur zu umkreisen.

Da macht zuerst der Erzähleinstieg stutzig. Warum wird gleich zu Beginn so dick aufgetragen? Man mag zwar auf den Rest des Satzes hinweisen, in dem  der Inhalt jener Annonce wiedergegeben wird, in der die Marquise öffentlich macht, sie sei ohne ihr Wissen schwanger geworden, zeige diesen Umstand nun an und versichere, sie sei „aus Familien-Rücksichten“ gewillt, den Vater des Kindes zu heiraten. Freilich, durch den Rest des Satzes wird der Kontrast zu ihrer Vortrefflichkeit noch stärker betont, aber warum muss in diesem Zusammenhang auch noch die Wohlerzogenheit zahlreicher Kinder erwähnt werden? Oder ist das Ganze nicht doch schon eine erste ironische Infragestellung des Ganzen durch den Erzähler? Gewiss ist eigentlich nur, dass nichts gewiss ist, und das macht die Erzählung, die Kleist nie selbst als Novelle bezeichnet hat, zu einem literarischen Ungeheuer.

Warum auch sollte er sie Novelle nennen? Die arg strapazierte Charakterisierung dieser Prosaform als Darstellung einer unerhörten Begebenheit stand zwar 1808, als die Novelle erstmals erschien, noch nicht im Raum. Goethes Gespräche mit Eckermann, aus denen dieser Definitionsversuch stammt, sollten erst gut 25 Jahre später bekannt werden. Aber es gab zeitgenössische literaturtheoretische Überlegungen, die das im bekannten Schlagwort verdichtete Wesensmerkmal der Novelle schon vorwegnahmen. Auf Die Marquise von O… ist es jedoch nicht recht anwendbar, weil es der unerhörten Begebenheiten schier zu viele sind, die diesen Text ausmachen, als dass man daraus einen Dreh- und Angelpunkt entwickeln könnte. Im Gegenteil, es scheint, die Welt sei aus den Fugen, weil es den Dreh- und Angelpunkt eben nicht (mehr) gibt.

Es ist Krieg, wie man früh erfährt, und die Schilderung der Kriegsereignisse ist so angelegt, als sollten sie dem Leser erläutern, warum es zu dieser merkwürdigen Anzeige der Marquise gekommen ist. Sie lebt, nachdem sie drei Jahre zuvor ihren Mann verloren hat, mit den Kindern wieder bei ihren Eltern im Haus ihres Vaters, des Obristen, als russische Truppen die Zitadelle angreifen und einnehmen. Es kommt zu Übergriffen, und ein plötzlich auftauchender russischer Offizier kann im letzten Augenblick verhindern, dass sich Soldaten seiner Truppe an der Marquise von O… vergehen. Als sie der Offizier, ein Graf F…, in Sicherheit gebracht hat, bricht sie „völlig bewusstlos“, wie es heißt, zusammen. Der Rest geschieht im Bindestrich: „-„. Jedenfalls bemerkt die Marquise geraume Zeit später körperliche Veränderungen, die sie sich nur erklären kann, wenn sie annähme, sie sei schwanger. Das aber wiederum könne nicht sein.

Dieser Umstand, durchaus im doppelten Sinne, setzt nun eine ungeheure Dynamik in Gang: das Werben des Grafen F… um die Marquise, Familienzerwürfnis, Familienversöhnung, Intrigen, ein vermeintlicher Tod mit Auferstehung, Aufklärung und schließlich ein augenscheinlich versöhnliches Ende, das aber ebenso dick aufträgt wie der Beginn der Erzählung. Kaum zu glauben!

Wie eben so vieles kaum zu glauben ist. Da ist, wie eingangs schon betont, das Verhalten der Marquise. Ein Kleist-Interpret hat auf die dreifach gewebte Neugier hingewiesen, die der Erzähleinsatz in nur zwei Sätzen erzeuge, einer kriminalistischen, einer psychologischen und einer sexuellen Neugier. Der letztgenannte Aspekt läuft letztlich auf die Frage hinaus, ob es tatsächlich zu einer unbemerkten Vergewaltigung hat kommen können. Das ist, nicht erst in Zeiten von #metoo, eine nicht unproblematische Annahme, unterstellt sie doch einvernehmlichen Sex, wo zumindest auf der Oberflächenebene des Textes eine Vergewaltigung im Raum steht, die zu widerlegen kaum möglich ist, folgt man den Textaussagen. Kleist selbst hat aber an solchen Spekulationen mitgestrickt, als er ein Distichon publizierte, von dem man ebenfalls nicht weiß, ob es ein ernst zu nehmender oder ein ironischer Kommentar zu zeitgenössischen Reaktionen auf seine Erzählung sein sollte: „Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht! Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.“ Der Blick auf weitere zeitgenössische Diskurse hilft auch nicht weiter. Zum einen gibt es literarische Texte, in denen Frauenfiguren in eine tiefe Ohnmacht fallen, andere, in denen sie die Ohnmacht nur simulieren. In diesem Zusammenhang war die Verlogenheit der Frau durchaus ein literarischer Topos (1). Zum anderen  gab es zeitgenössisch auch eine rechtliche Diskussion um das Delikt der „Nothzucht“, eine Diskussion, die der Jurist Kleist gekannt haben mag (2). Da wurde offenbar diskutiert, ob eine „stupratione in somno“, also eine Vergewaltigung im Schlaf überhaupt möglich sei, und zwar auch ohne eine Gewaltzufügung, die zuvor das Bewusstsein des Opfers ausschaltet. Diese Möglichkeit wurde bejaht! Insofern sollte man die ‚völlige Bewusstlosigkeit‘ der Marquise wohl doch ernst nehmen und sich jedweder Spekulation entziehen.

Stellen wir also die sexuelle Neugier hintan, zumindest in diesem Zusammenhang, bleibt doch das merkwürdige Hin und Her der Marquise, ihr Lavieren zwischen Autonomie und Familienräson merkwürdig. Es wirkt berechnend. Mal schließt sie eine Heirat aus, mal zeigt sie sich zur Heirat bereit; knallhart erwirkt sie schließlich, als der Vater des Kindes klar ist (oder zu sein scheint?), einen Ehevertrag, der den Ehemann und Vater auf Distanz hält, dann aber willigt sie in eheliches Familienglück ein, dem schließlich noch mehrere Söhne entspringen, alle „Russen“, wie der Erzähler am Ende ironisch kommentiert. Am Irritierendsten aber ist die Versöhnungsszene mit dem Vater, eine Szene die man als höchst lustvolle Beischlafsimulation gar nicht missverstehen kann, es sei denn, man stellt die Simulation in Frage. Eine Szene übrigens, die noch dadurch ins Ungeheuerliche getrieben wird, dass die Mutter sie beobachtet und sich am Anblick des Treibens sichtlich erfreut. Man mag als Leser irritiert den Jargon bemühen und denken: Echt geil!

Allem ist am Ende der Boden entzogen, friedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, bürgerlichen Familienkonstellationen und Ehekonventionen, aber alle haben sich darin augenscheinlich ganz prima eingerichtet. Nur der Leser nicht, der verstört innehält, die existenziellen Risse zu spüren bekommt und ebenso rat- wie hilflos zurückbleibt, so in seiner Wahrnehmung im Zweifel, dass er gleich wieder von vorne anfangen möchte zu lesen – um sich in diesem Text und seinen Sätzen erneut in Frage gestellt zu sehen.


Sieht man von den zahlreichen, für den Einsatz im Deutschunterricht konzipierten Leseausgaben ab, kann man folgende Ausgaben besonders empfehlen:

  • Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…. Hrsg. von Wolfgang Pütz. –  Stuttgart: Philipp Reclam Verlag 2013 (Reclam XL. Text und Kontext,. Nr. 19127), (€ 3,80).
  • Heinrich von Kleist. Die Marquise von O…. Mit Materialien und Bildern aus dem Film von Eric Rohmer. Hrsg. von Werner Berthel. – Frankfurt/M.: Insel Verlag 1979 (it. 299), (€ 8.-). [Die Ausgabe ist offensichtlich immer noch erhältlich].

Darüber hinaus und aufgrund ihrer hervorragenden Kommentierungen und Erläuterungen:

  • Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg,. von Helmut Sembdner. – München: Deutscher Taschenbuchverlag 2001 (€ 19,90). [Das ist die bekannte zweibändige Ausgabe aus dem Hanser-Verlag hier in einem Band]
  • Heinrich von Kleist: Sämtliche Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften. Hrsg. von Klaus Müller-Salget. – Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 22013 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Band 5), (20.- €).

Bildnachweis:

Der linke Teil des Beitragsbilds zeigt ein Porträt Heinrich von Kleists, das wahrscheinlich 1801 entstand.  Der rechte Bildteil zeigt das Deckblatt des ersten Bandes der 1810 erschienen Ausgabe der Erzählungen Heinrich von Kleists. Beide Bildelemente unterliegen den Wikimedia Commons.