Augenreiben. Kopfschütteln. Hatte ich irgendetwas missverstanden oder mich schlicht vertan? Die Anomalie stand auf der Weihnachtswunschbücherliste 2021. Auf diese Liste war der Roman gelandet, weil über unterschiedliche Kanäle mein Interesse geweckt worden war und ich mir einbildete, die Story zu kennen. Aber nach dreißig, vielleicht vierzig Seiten stellte ich mir dann doch die Frage, wann denn nun das Ereignis eintrete, das die Romanhandlung tragen soll und von dem in jeder Rezension, in jedem Blogbeitrag, in jedem Podcast, die sich dem Roman widmen, die Rede ist? Man könnte hieran schön das naive Missverständnis zwischen Story und Plot aufzeigen, dem ich mit meiner Ungeduld in erheblichem Maße aufgesessen war, aber lassen wir das. Schauen wir auf den Roman.
Der nimmt genau fünfzig Seiten Anlauf, um das Ereignis zu schildern, auf das alle hinweisen. Auf ihrem Flug von Paris nach New York gerät eine Boeing 787 am 10. März 2021 in ein schweres Wetter. Beim Durchflug durch einen Cumulonimbus, eine gewaltige, als „Superzelle“ bezeichnete Wolkenformation, gerät die Maschine in große Luftlöcher und in gewaltige elektromagnetische Interferenzen. Sie wird zudem durch massiven Hagelschlag erheblich beschädigt. Relevante Bordsysteme fallen zeitweilig aus. Man nimmt nichts vorweg und mindert keine Spannung, wenn man darauf hinweist, dass das Flugzeug flugtüchtig bleibt, wenn auch eingeschränkt, und endlich doch diese Zone extrem schlechten Wetters wieder verlassen kann. Schließlich kann die Maschine am Kennedy Airport in New York landen.
Gut drei Monate später, Ende Juni, taucht das Flugzeug aber erneut im Luftraum der amerikanischen Ostküste auf. Flugsicherheit und die US Air Force fangen die Maschine ab und zwingen sie zu einer Landung auf einem militärischen Stützpunkt an der Ostküste. Es ist nicht nur die gleiche Maschine, es ist auch die gleiche Besatzung und es sind die gleichen Passagiere. Wie auch immer das passieren konnte, es gibt nun alle Insassen doppelt. Die Doubletten unterscheiden sich nur in einem Punkt von ihren Pendants. Sie nehmen an, es sei nach wie vor der 10. März, ihnen fehlen also rund drei Monate, die die – Verzeihung, aber wie soll man sie nennen? – Originale mittlerweile weitergelebt haben. Es fällt schon schwer, diese Menschen richtig zu bezeichnen, um wie viel schwieriger ist die Situation für sie, in der sie sich befinden.
Einigee dieser Figuren hat man als Leser oder Leserin schon zu Beginn des Romans kennengelernt. Jetzt wird klar, dass das, was ich zunächst als Vorspann wahrgenommen hatte, viel mehr ist. Hervé Le Tellier versteht es, auf knappem Raum interessante Figuren zu entwerfen mit außergewöhnlichen Lebensläufen. Sie verbindet bei aller Unterschiedlichkeit, wie rückblickend deutlich wird, nicht nur das oben skizzierte Ereignis. Sie führen in gewisser Weise alle schon vorher ein Doppelleben, in das ihre Blaupause nun einbricht.
An dieser Stelle nun auf Details dieser unterschiedlichen Leben einzugehen, würde, so scheint mir, tatsächlich unnötig spoilern. Aber man kann sich natürlich eine Reihe von Verwicklungen vorstellen, die sich aus dem bizarren Umstand ergeben. Was, wenn jemand in den entscheidenden drei Monaten verstorben ist, der jetzt wieder wie von den Toten aufsteht? Was, wenn man sich in der Zwischenzeit verliebt hat? Was, wenn der oder die Eine der oder dem Anderen schlicht im Weg steht? Was bedeutet der Vorfall politisch? Wie überhaupt lässt er sich erklären? Man kann das und mehr noch durchspielen – und Le Tellier tut es in einer Weise, die die Freude an dem Gedankenexperiment und die Lust an der Lektüre nie abreißen lässt. Bis – ja bis zum ausgesprochen verstörenden Ende des Romans.
Dabei bewegt sich der Roman auf unterschiedlichen Ebenen. Er spielt gekonnt mit philosophischen Fragen und lässt sie auch diskutieren. Er flicht literaturtheoretische Überlegungen ein und reflektiert die Bedeutung des Schreibens und der Literatur. Selbst die eigene Genese wird im Roman ironisch in den Blick genommen. Als Mitglied der Autorengruppe von Oulipo weiß Hervé Le Tellier offenbar ganz genau um die postmodernen Bezüge, die er entfaltet. Alexander Carmele, der sich in diesem literarischen Kontext gut auszukennen scheint, hat einleuchtend auf die literaturtheoretische Grundlagen des Romankonstrukts und dessen strengen Aufbau hingewiesen. Was Die Anomalie erzählerisch entfaltet, ist in der Tat ein rational sehr streng durchgeführtes Gedankenexperiment im Spannungsfeld von Tatsächlichkeit und Abweichung.
Aber wahrscheinlich ist der Roman gerade deshalb nicht das bloße Surrogat einer avantgardistischen Literaturtheorie. Von seinen intellektuellen und philosophischen Anspielungen her hat mich Die Anomalie sehr an Laurent Binets Die siebte Sprachfunktion erinnert, allerdings ohne dessen Schwächen. Wirken bei Letztgenanntem die literaturtheoretischen Ausführungen wie Traktate, bisweilen auch wie Fremdkörper im Strom der Erzählung, so gelingt es Le Tellier, die sich daraus ableitenden Fragestellungen so auszugestalten, dass sie die Handlung weitertreiben. Das macht Die Anomalie auf ganz unterschiedlichen Ebenen lesbar und zu einem großen Lesevergnügen.
Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Kitte. – Hamburg: Rowohlt Hundert Augen 2021.
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