Anders als Storms Knecht Ruprecht und Eichendorfs Markt und Straßen stehen verlassen, gehört Ringelnatz‘ Gedicht nicht zum Repertoire der Weihnachtstexte aus Kinderzeiten. Es war später, sicher deutlich später, als er mir zum ersten Mal begegnete.Wann das war, weiß ich nicht mehr. Als Kind wäre mir dieses Weihnachtsgedicht wahrscheinlich aufgrund seiner sprachlichen Verschachtelungen nur schwer zugänglich gewesen. Wo auch immer das Gedicht herkam, vor kurzem war es wieder da, als ich in einer neueren Weihnachtsanthologie blätterte. Und es war wieder wie irgendwann damals, dass die vorletzte Strophe nach mir griff. Doch von vorne:
Vorfreude auf Weihnachten
Ein Kind – von einem Schiefertafel-Schwämmchen
Umhüpft – rennt froh durch mein Gemüt.Bald ist es Weihnacht! – Wenn der Christbaum blüht,
Dann blüht er Flämmchen.
Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt
Uns mild. – Es werden Lieder, Düfte fächeln. –Wer nicht mehr Flämmchen hat, wem nur noch Fünkchen glimmt,
Wird dann doch gütig lächeln.Wenn wir im Traume eines ewigen Traumes
Alle unfeindlich sind – einmal im Jahr! –
Uns alle Kinder fühlen eines Baumes.Wie es sein soll, wie’s allen einmal war.
Mag sein, es ist meiner sentimentalen Vorstellung von Vorfreude auf Weihnachten zuzuschreiben, dass das Gedicht zunächst meine Erwartungen so nun überhaupt nicht bedient. Es verwirrt mich, auch wenn es in der ersten Strophe ein Bild wachruft, das ich aus eigener Erfahrung noch kenne. Ich gehöre wahrscheinlich zur letzten Schülergeneration, die das Schreiben im ersten Schuljahr noch auf der Schiefertafel gelernt hat. Zu einer solchen Tafel gehörte natürlich das Schwämmchen. Es war an einer Schnur festgebunden an der Tafel. Im Ranzen baumelte es draußen, und je nach eigener Bewegung und nach Lange dieser Schnur ‚umhüpfte‘ es das sich bewegende Kind. Das Erinnerungsbild, das dabei entsteht, ist ein heiteres, denn das Kind „rennt“, wie das lyrische Ich bemerkt, „froh durch mein Gemüt“.
Aber wer spricht dann? Ist es weiterhin das lyrische Ich, angeregt durch das erinnerte Kind mit dem Tafelschwämmchen? Oder findet ein Perspektivwechsel statt, so dass das Kind selbst zu Wort kommt mit seinem Ausblick auf Weihnachten? Oder ist es gar ein kurzer Dialog, bei dem der Redewechsel durch die Gedankenstriche markiert wird?
Zudem diese auffallenden semantischen Verschiebungen: der Christbaum, der blüht, und der dann auch noch „Flämmchen“ blüht. Die wiederum haben eine im weihnachtlichen Kontext doch eher unerwartete Funktion, sie wärmen, müssen als mangels weiterer Heizquellen gar. Die Situation, die da evoziert wird, scheint nicht gerade durch Wohlstand geprägt. Und selbst die wird noch einmal zurückgefahren auf das bloße „Fünkchen“, das glimmt. Was bleibt denn da von der Wärme übrig?
Jedenfalls lässt sich die Weihnachtsvorstellung hier nur noch schwer in eine harmonisierende lyrische Form bringen. Das Bemühen um den Reim ist zwar erkennbar, lässt sich aber nur noch auf weite Ferne und nicht mehr in der Einzelstrophe generieren. Der Vers bricht völlig aus und lässt in seiner Unregelmäßigkeit keine Ruhe aufkommen. Es wirkt doch alles so, als müsse man sich mit einiger sprachlicher Anstrengung die Dinge schönreden und als gelinge das nur halb.
Das macht in meiner Wahrnehmung das Gedicht zwar höchst kunstvoll, doch das ist es bis hierher nicht, was seinen Gehalt ausmacht. Es ist vielmehr dieses Trotz allem der letzten beiden Strophen
Wenn wir im Traume eines ewigen Traumes
Alle unfeindlich sind – einmal im Jahr! –
Uns alle Kinder fühlen eines Baumes.Wie es sein soll, wie’s allen einmal war.
Hier leuchtet die Hoffnung, so doppelt verpackt sie „im Traume eines ewigen Traumes“ auch sein mag. „Unfeindlich“ sein, den Baum nehmen als Sinnbild für die Einheit der Menschheit, und das als Aufforderung, „wie es sein soll“, und zugleich als Erinnerung daran, „wie’s allen einmal war“.
In diesem Sinne wünsche ich allen eine frohe Weihnacht!
Textnachweis: Joachim Ringelnatz: Sämtliche Gedichte. – Zürich: Diogenes Verlag 2005 (detebe. 23467), S. 541f.