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Joakim Zander: Der Bruder

Der Berliner Literaturwissenschaftler und Publizist Walter Delabar schilderte kürzlich die Beobachtung, dass das Krimi-Genre von einer „Empfehlungswelle“ geradezu überschwenmmt werde, während eine, auch den Verriss nicht scheuende Literaturkritik weitgehend fehle. Leseempfehlungen würden begründet mit aktueller gesellschaftlicher und politischer Relevanz; stilistische und konzeptionelle Mängel blieben dem gegenüber unerwähnt oder unberücksichtigt. Joakim Zanders neuer Roman Der Bruder, der im Juli 2016 erschien, scheint mir durchaus ein aktuelles Beispiel zu sein, das in der Lage ist, diesen Eindruck zu bestätigen. Auf die Lektüre des Romans hatte ich mich gefreut, habe den Roman auch ohne mich zu langweilen zu Ende gelesen; die Freude blieb aber am Ende getrübt. Nicht, weil er nicht spannend gewesen wäre, nicht, weil er keine brisante aktuelle Problematik ansprechen und durchspielen würde. Getrübt wurde das Lesevergnügen durch den Umstand, dass der Roman konzeptionell nicht stimmig ist.

Dabei besitzt dieser „Thriller“, als der er vom Verlag mit großem Erfolg vermarktet wird, alles, was man von diesem Genre erwartet: internationale Verwicklungen, politische Machenschaften und Intrigen sowie individuelle Verstrickungen. Über vier unterschiedliche Orte erstrecken sich die Handlungszusammenhänge: New York, London, Stockholm und ein nicht näher genanntes Bürgerkriegsgebiet in Syrien. Die Konfliktlinien laufen aber in der schwedischen Hauptstadt zusammen. Drei Figuren stehen im Mittelpunkt: die Geschwister Yasemine und Fadi Ajam sowie die ehemalige EU-Referentin Klara Walldéen, die jetzt für eine unabhängige Menschenrechtsorganisation in London arbeitet und an einer Expertise für eine internationale Sicherheitskonferenz beteiligt ist. Letztere ist jenen Leserinnen und Lesern, die Zanders ersten Roman Der Schwimmer gelesen haben, schon bekannt. Einige weitere Figuren aus dem Schwimmer, den, wie ich bemerken muss, selbst nicht kenne, tauchen im Laufe der Handlung auf und spielen für den Handlungsverlauf eine mehr oder minder zentrale Rolle. Doch dazu später noch ein paar Worte.

Die beiden Geschwisterkinder Yasemine und Fadi waren vor unbestimmter Zeit mit ihren Eltern als Flüchtlinge nach Schweden gekommen und in einem der Vororte Stockholms gestrandet, der im Roman den Namen Bergort trägt. Hier erleben sie alle möglichen Formen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt und lernen, sich mit vergleichbaren Strategien zu behaupten. Zu Beginn der Romanhandlung ist es Yasemine gelungen, sich aus den Verstrickungen und kriminellen Milieus der sozialen Brennpunkte zu befreien. Sie hat Schweden verlassen und arbeitet als Trendscout in New York. Ihr Bruder Fadi, der zu ihr ein sehr enges, geradezu symbiotisches Verhältnis hatte, rutscht während dessen immer mehr in die Kleinkriminalität ab bis er sich dem Islam zuwendet und Kontakt bekommt zu islamistischen Kreisen, die es verstehen, den jungen Mann für sich und ihre Zwecke zu gewinnen. Er wird darauf vorbereitet, für eine radikalislamische Organisation, unter der man sich als Leser durchaus Strukturen des IS vorstellen kann, nach Syrien zu gehen, um dort zu kämpfen. Als er dort nur knapp dem Tod entrinnt und bemerkt, dass er manipuliert und ausgenutzt worden ist, kehrt er heimlich nach Stockholm zurück, um sich zu rächen. Offiziell wird er vermisst, man hält ihn für tot. Seine Schwester aber versucht, ihren Bruder zu finden, und kehrt ebenfalls nach Schweden zurück.

Dieser Handlungsstrang ist thematisch eng verbunden mit Vorfällen, die in den Krawallen und Straßenschlachten in Husby, Rinkeby und anderen Stadtteilen Stockholms aus dem Jahr 2013 sicher ihre realen Vorbilder haben. Hier im Roman erweisen sich diese Krawalle als von außen gesteuert und bewusst provoziert, um auf diese Weise der Öffentlichkeit zu suggerieren, dass die staatlichen Institutionen nicht in der Lage seien, die Situation zu beruhigen und in den Griff zu bekommen. Die dahinter stehenden Drahtzieher verfolgen dabei sowohl politische wie auch handfeste wirtschaftliche Interessen.

Hier wiederum kommt nun Karla Waldéen ins Spiel. Der um sie gebaute Handlungsstrang erscheint lange Zeit vollkommen unabhängig von der Geschichte um Yasemine und Fadi zu verlaufen. Der Leser fragt sich lange Zeit, wie die Erzählfäden wohl verbunden werden, ein Aspekt, der zur Lesespannung durchaus beiträgt. Von Beginn an aber ist ihm ebenso wie der Figur klar, dass die Arbeit, an der sie beteiligt ist, von hoher Brisanz sein muss. Karlas Computer wird gestohlen und taucht dann wieder auf, ein Kollege, den sie selbst lange Zeit als Spion verdächtigte, kommt bei einem fingierten Unfall ums Leben. Klarheit gewinnt Karla aber auch erst, als sie sich selbst zu dem schon erwähnten Kongress nach Stockholm begibt und dort, durch Zufall, auf Yasemine stößt.

Der Zufall ist, wer könnte das bestreiten, schon immer ein zentrales Moment erzählender Literatur gewesen. Für die literarische Qualität eines Textes ist es aber nicht unerheblich, ob der Zufall, der dem Geschehen eine Wende gibt, tatsächlich als solcher wahrgenommen wird oder nur als Instrument, das die Handlung dahin biegt, wo sie hin soll. Der Zufall wird also dann zum Problem, wenn hinter ihm der Bauplan sichtbar wird, der ihn eben nicht mehr als das, was er sein soll, sondern als das, was er erzähltechnisch ist, erscheinen lässt: bloße Konstruktion nämlich. Genau das ist aber eines der Probleme von Der Bruder.

Es ist nicht nur die Begegnung zwischen Yasemine und Karla, die als allzu zufällig erscheint. Es gibt mehrere Stellen, an denen der Leser sich voller Erwartung fragt, wie das sich abzeichnende oder akute Problem denn lösbar ist. Aber gerade dann treten plötzlich Figuren aus dem Erstlingsroman auf, die ratzfatz eine Lösung herbeiführen können. Wenig glaubwürdig ist auch die Entwicklung des männlichen Protagonisten Fadi. Joakim Zander wählt ein durchaus einleuchtendes erzählerisches Mittel, indem er Fadi aus der Ich-Perspektive seine Geschichte erzählen lässt, während in den Kapiteln, die die Perspektiven Yasemines und Klaras schildern, ein personaler Erzähler durch das Geschehen führt. Aber dadurch kommt man als Leser oder Leserin einem Fadi nicht näher. Zander erzählt die Geschichte von Fadis Radikalisierung zum Islamisten als ein Europäer, der sich vorstellt, wie eine solche Konversion ablaufen könnte. Ich unterstelle dem Autor nicht, dass er nicht sauber recherchiert hat; ich fürchte eher, dass unsere Möglichkeiten, sich in die Mentalität und in die verqueren Denkweisen dieser Menschen hineinzudenken, an ihre Grenzen stoßen. Vollends unglaubwürdig ist aber dann die schnelle Abwendung des jungen Mannes von diesen radikalen Vorstellungen. Hier überzeugt der Roman überhaupt nicht.

Und letztlich tut er das auch nicht mit seiner Gesamtkonstruktion. Was er in beeindruckender und auch beklemmender Weise aufdeckt, sind Mechanismen, wie brennende soziale und politische Probleme zu reinen Vermarktungszwecken instrumentalisiert werden, um damit Geld zu verdienen, sehr viel Geld. Deshalb endet der Roman am Ende auch nur vordergründig positiv; hier zeigt eher der Kapitalismus sein übelstes Gesicht. Aber wer annimmt, dass skrupelloses Branding der Werbebranche, die innere Sicherheit eines Staates, die Radikalisierung perspektivloser Jugendlicher und die Bürgerkriegsgemetzel im Nahen Osten so unmittelbar zusammenhängen wie in diesem Thriller suggeriert, der glaubt auch, dass man die zunehmende Ausbreitung der Wüsten auf der Südhalbkugel dadurch unmittelbar stoppen kann, dass man auf den regelmäßigen Gebrauch der heimischen Klospülung verzichtet.


Joakim Zander: Der Bruder. Thriller. – Reinbek bei Hamburg. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2016 (14,99 €)

Nachgelesenes

Thomas Wörtche sieht im Deutschlandfunk den Roman ebenfalls kritisch. Insgesamt aber findet er ein durchweg positives Echo, unter anderem bei hr-info, beim WDR und im Kulturblog.