Bobrowski war anders, ist anders. Das erscheint sicherlich als merkwürdiger Charakterisierungsversuch für einen Schriftsteller, für einen Künstler. Denn das Anderssein, das Anders zur Welt gestellt sein als das Gängige, das Hergebrachte, die Konvention ist doch eine genuine Eigenschaft von Literatur und Kunst. Angepasstheit an das Gewohnte ließe sie erstarren im Trivialen, machte sie im besseren Fall zum Kunsthandwerklichen, im Regelfall überflüssig.
Aber Bobrowski! Anders als andere Literaten, anders als andere Literatur. Kaum einer tritt mir mit seinen Gedichten und seiner Prosa fremder gegenüber als als Johannes Bobrowski. Nur in seiner Physiognomie erscheint er mir auf Fotos, die ich kenne, immer als der jüngere Bruder meiner Großmutter, die keinen Bruder hatte. Vielleicht ist es diese Ähnlichkeit, die ich immer wieder ganz subjektiv zu entdecken glaube, die mir suggeriert, er strahle eine viel bürgerliche Attitüde aus als seine Lyrikerzeitgenossen Peter Huchel, Paul Celan oder Hans Magnus Enzensberger. Dieses wahrscheinlich nur gewünschte Vertraute verstärkt noch die Fremdheit der Texte, die zu den bedeutendsten der an bedeutenden Werken zahlreichen DDR-Literatur zählt.
Doch Fremdheit ist nicht nur ein Ausdruck von Distanz, sie beschreibt auch einen möglichen Zugang zu seinen Texten, vor allem seinen Gedichten. Lesen, immer wieder lesen, auch laut lesen, wenn es geht, Nichtverstandenes stehen lassen, klingen lassen, den lyrischen Bildern ihren Raum geben, nicht deuten, sondern hinschauen auf diese Bilder … und dann wiederlesen. So entstehen Eindrücke, mag sein zaghafte, mag sein langsam, die sich einen lyrischen Großraum erschließen.
Bobrowski hatte dafür Namen und Begriffe. „Sarmatien“, wie es im ersten, 1961 erschienenen Gedichtband Sarmatische Zeit genannt wird, und „Schattenland“, so Teil des Buchtitels Schattenland Ströme aus dem dem Jahr 1962. Sarmatien, das ist die aus römischer Zeit so bezeichnete Gegend zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, bei Bobrowski etwas kleiner zwischen Weichsel und Wolga. Eine Gegend, die man, geographisch ein bisschen ungenau als Ostpreußen bezeichnet, der Dichter nennt, tiefer schürfend, sie „Land der Pruzzen“. Es ist kurz gesagt dessen Heimat, die er in seinen Gedichten wie auch in seiner Prosa gegenwärtig hält. Gegenwärtig in seiner geschichtlichen Sedimentierung wie in ihren mythischen Wurzeln, gegenwärtig aber ebenso als Land, das vom Krieg überzogen wurde, an dem er selbst teilnahm.
Bobrowski konnte die Spannung, die aus solcher Vielschichtigkeit erwuchs, einfangen in einem ihm eigenen Formenrepertoire. Die Lyriker des 17. und 18. Jahrhundert waren für ihn prägend, allen voran Klopstock, den er seinen „Zuchtmeister“ nannte, und Hölderlin; zudem die Musik des Barock, aber nicht Bach, sondern Buxtehude, und die Philosophie der Königsberger Aufklärer, aber nicht Kant, sondern Johann Georg Hamann. Auch hier: Bobrowski war anders. Aus diesen Traditionslinien souverän schöpfend stehen seine Gedichte quer zu den literarischen Usancen der 50er und 60er Jahre beiderseits der deutsch-deutschen Demarkationslinie. Sie erscheinen weniger modern in ihrer scheinbar rückgewandten Formenstrenge und sind zugleich geradezu avantgardistisch in ihrer verschatteten Bildlichkeit. Sie passen erst recht nicht in das literarische Konzept eines Sozialistischen Realismus, der ab Ende der 50er Jahre in der DDR als Bitterfelder Weg propagiert wurde. Wie auch sollte sich ein Kulturfunktionär verhalten zu Versen wie diesen?
Gewölk zieht über dem Strom,
das ist meine Stimme,
Schneelicht über den Wäldern,
das ist mein Haar.
Über den finsteren Himmeln
kam ich des Wegs,
Gras im Mund, mein Schatten
lehnte am Holzzaun, er sagte:
Nimm mich zurück.
Es ist die letzte Strophe des Gedichts „Begegnung“, das im März 1962 entstand. Es gehört zu jenen, mit denen Bobrowski im gleichen Jahr den Preis der Gruppe 47 gewann. Aber selbst die Granden der damaligen bundesrepublikanischen Literaturkritik ahnten mehr als dass sie begründen konnten, von welcher Qualität Bobrowskis lyrische Ausdruckskraft war.
Johannes Bobrowski muss – glaubt man den Zeitgenossen, und es gibt keinen Grund, es nicht zu tun – ein Mensch von ausgesprochen großer Integrationskraft gewesen sein, ein Mann von hoher moralischer Autorität, der auch nach 1961 über die Mauer hinweg wirken konnte. Er bildete geradezu einen Pol deutsch-deutscher Literaturverhältnisse, einen ruhenden, besonnenen. Dass er bei aller Bespitzelung, die auch er ausgesetzt war, in der DDR weithin unbehelligt arbeiten konnte, ist mir letztlich immer noch ein Rätsel, mögen die Dokumente zu seinem Leben auch noch so umfassend und aussagekräftig sein. So konnte er auch von Beginn an in beiden deutschen Staaten publizieren, in seinem eigenen Haus, den CDU-nahen Union Verlag, in dem er ab 1959 Cheflektor war, wie auch bei der damals noch in Stuttgart ansässigen Deutschen Verlags-Anstalt und bei Wagenbach.
Bei DVA erschien nun, von Eberhard Haufe erneut sorgfältig ediert, Johannes Bobrowskis Gesammelte Gedichte. Dieser schöne Band versammelt die beiden zu Lebzeiten veröffentlichten Sammlungen Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme, die noch vom Autor selbst besorgte Sammlung Wetterzeichen sowie die verstreut publizierten wie aus dem Nachlass stammenden Gedichte. Als Bobrowski 1965 erst 48-jährig an einem Blinddarmdurchbruch starb, war der Verlust für die deutschsprachige Literatur immens. Wie groß, kann man an den Gesammelten Gedichten nachvollziehen.
Johannes Bobrowski: Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Eberhard Haufe. Mit einem Nachwort von Helmut Böttiger. – München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017 (34,99 €)
zum Weiterlesen oder -hören
Wer sich weiter mit Johannes Bobrowski beschäftigen möchte, sollte zum Einstieg das sehr schöne Feature über den Schriftsteller von Helmut Böttiger hören oder im Manuskript nachlesen, das der Deutschlandfunk produziert hat.
Bildnachweis
Das Beitragsbild verwendet als Hintergrund ein Foto des Einmarschs deutscher Truppen in Vilnius im Juni 1941. Das Bild wird vom Bundesarchiv Koblenz unter der CCL Bundesarchiv, Bild 101I-265-0028-03A / Moosdorf [Mossdorf] / CC-BY-SA 3.0 zur Verfügung gestellt.