Der Titel ist Programm: Jetzt die Gegend damals. Jürgen Becker beweist in seinem letztes Jahr im August erschienenen Roman ein ausgesprochen sensibles Auge für die „Gegend“. Gegend ist all das, was ihn umgibt, vor allem aber Landschaften, Siedlungsformationen am Rande der Stadt und auf dem Land und natürlich die Menschen und Tiere, die sich in diesen Räumen bewegen. Zugleich aber weiß dieses Auge auch immer um das Gewachsensein dieser Räume, um ihre Veränderungen und um das Hineinragen von Geschichte. Das literarische Auge des Schreibenden ist deshalb auch nie nur ein beobachtendes, sondern zugleich auch immer ein erinnerndes. Erinnerung ist aber, auch dessen ist sich der Erzähler bewusst, ein merkwürdig Ding.
Es gibt Zeiten, Orte, Vorgänge, von denen nichts anderes existiert als die Gedächtnisbilder, in denen sie aufgegangen sind. Und zwar so vollkommen, daß die Erinnerung nur das noch findet, was in den Bildern erscheint. Und das stimmt eben nicht, sagt Jörn, denn alles Vergangene hat mehr zu bieten, als was mein Gedächtnis festgehalten halt. Es geht darum, dass die Erinnerung sich in Unbekanntes aufmacht; daß sie über die Grenzen ihrer Reichweite hinauskommt: daß sie vergisst, was sie alles schon kennt.
Sedimentschicht für Sedimentschicht trägt der Erzähler ab, was er schon kennt, um das Unerkannte kenntlich zu machen. Dazu braucht Jürgen Becker eine Projektionsfigur. Dieser Jörn Winter, den er hier auftreten lässt, ist sein Alter ego, aber er ist zugleich mehr. Er hat, wie das Erzähler-Ich des Verfassers betont, eine eigene Identität. An anderer Stelle sagt Jörn selbst: „Wenn hier einer ich sagt […], dann bin ich es.“
Es gibt in diesem kurzen Roman eine überbordende Vielzahl von Sätzen, die wie der zitierte schillern. Ich kann mich an keinen literarischen Text in den letzten zwei, drei Jahren erinnern, an dem ich so viele Lese- und Markierungszeichen hinterlassen habe wie an diesem. Es ist die Prosa eines Lyrikers, aber das allein fasst das Phänomen der verknappten sprachlichen Durchdringung nicht. Ich gestehe, ich hatte vor der Leküre keine Vorstellung, was denn ein „Journalroman“ sei, denn ich kannte zuvor keine Romane des Autors. Wenn man einer schnellen Google-Suchabfrage Glauben schenken darf, so scheint der Gattungsbegriff zumindest in der deutschsprachigen Literatur für die Prosa Jürgen Beckers reserviert.
Wie funktioniert das? Ich folge spontan dem Vorschlag, sich die Seite 99 eines literarischen Werks anzuschauen, und lese:
Die Ortsnamen kannte er noch, die Orte erkannte er kaum wieder.
Das Foto der Holzbänke in einer leeren S-Bahn. Auf der Sonnenseite sind die Bänke hell, auf der Schattenseite sind sie dunkel.
Fotos mit den Erinnerungen der Betrachter.
Als wir kamen, waren schon welche gegangen; als wir gingen, kamen welche noch.
In den Vororten schien es mehr Sicherheit zu geben, weshalb es, eine Zeitlang, die Leute hinaus in die Vororte zog.
Am Waldrand noch die Mulden, in denen, getarnt von den Wipfeln der Kiefern, die kleinen Me 109-Maschinen standen.
Auf der Fußgängerbrücke stehen, die über die Autobahn führt. Darauf warten, daß einmal, ein einziges Mal, nur für ein paar Minuten kein Fahrzeug kommt und die Autobahn vollkommen leer ist.
In der Nacht geträumt, wie es weitergeht, aber nach dem Aufstehen morgens ging es nicht weiter.
Man sieht, wie in einem Notizbuch werden Einzelbeobachtungen scheinbar unverbunden nebeneinander festgehalten, als wolle man Dinge zum Zweck der späteren literarischen Verarbeitung sichern. Doch aus den Splittern wird keine Ausarbeitung, sondern sie bleiben stehen. Das Zusammenhanglose ist denoch nur etwas Scheinbares. Die Beobachtungen, die festgehalten werden, die Gedanken, die artikuliert werden, bilden unter der Hand beim Lesen einen Verweisungszusammenhang, der den Leser teilhaben lässt an der Welt dieses Jörn Winter. Das ist facettenreich und verdient aufgrund dessen ohne Zweifel die Gattungsbezeichnung Roman. Der Kritiker Martin Krumbkolz war bei seiner Besprechung im Deutschlandfunk sehr angetan von dem Buch und hat davon gesprochen, Beckers Text sei „weder Journal noch Roman“. So sehr ich seine Gesamteinschätzung teile, hier scheint er mir zu irren. Beckers Buch ist gerade beides, Journal und Roman.
So ist auch der Eindruck der Handlungsarmut, der sich bei Lesen der Seite 99 aufdrängen mag, nicht richtig. Reich an äußerer Handlung ist der Roman in der Tat nicht, umso reicher aber an einer inneren, die man als permanente Denk- und Erinnerungsbewegung beschreiben kann. Wesentliche Bezugspunkte sind dabei die Kindheit und Jugend des Jörn Winter in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Köln und in Thüringen sowie seine Rückkehr in den Westen. Das alles ist autobiographisch gegründet, doch hier ist es vor allem aber die Geschichte der literarischen Figur. Diese vergangene Zeit des Erzählten wird konfrontiert mit der des Jetzt, und das Jetzt ist die Zeit des Alters; die Zwischenjahre bleiben weitgehend ausgeblendet. In diesem Kontrast des zeitlichen Abstands tritt das Verlorene umso schärfer hervor, ebenso aber auch das Vergehende. Es ist eine Art Doppelbewegung, die Becker da festhält. Nicht nur die Dinge, die Ereignisse, die Erinnerungen entfernen sich, sondern ebenso entfernt sich der Erzähler von ihnen. Durchzogen ist das Buch, und zwar ohne je sentimental zu werden, von der Erfahrung, sich von der Welt, wie sie ist und wurde, immer mehr zu entfernen. So ist es ein wunderbares Buch des Alters und des Abschieds und es bleibt zu hoffen, dass Jürgen Becker noch eine ganze Reihe solcher Journalromane schreiben wird.
Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015 (19.95 €)
Nachgelesenes
Eine weitere Besprechung von Jetzt die Gegend damals findet man von Marina Büttner auf literaturleuchtet.
Auch wenn die filmische Montage nervig ist, bietet der Suhrkamp Verlag ein schönes Interview-Porträt mit Jürgen Becker: