In Martin Walsers philosophisch-religiösem Essay Über Rechtfertigung, eine Versuchung aus dem Jahr 2012 heißt es an einer Stelle lapidar: „Wer nur gerechtfertigt leben kann, kann nicht leben. Es sei denn, er könne seine Rechtfertigungsnot durch das Auflegen von Debussy-Platten narkotisieren.“ Da der Hauptfigur des jüngsten Walser-Prosatextes, der die meiste Zeit Justus Mall heißt, die ohnehin ironisch gebrochene Option nicht zur Verfügung steht, erscheint er als tragikomisch daherkommender Mann von letztlich ganz trauriger Gestalt. Ausgestattet ist er dabei mit reichlich Provokationspotential, das man als Leser und wohl erst recht als Leserin erst einmal aushalten muss, will man das schmale Büchlein nicht vor dem Ende desinteressiert oder sogar genervt weglegen. Aber das Aushalten lohnt.
Der Prosatext besteht aus 37 Briefen, die zwischen dem 30. Oktober 2016 und dem Hochsommer 2017 verfasst wurden. Geschrieben wurden sie vom Ich-Erzähler Justus Mall in einem öffentlichen Blog, ohne dass ein wesentliches Merkmal eines Blogbeitrags, nämlich das der umgekehrten Chronologie berücksichtigt wurde. Man liest also auch hier den ältesten Brief zuerst, den jüngsten zuletzt. Gegen Ende wird ein Wechsel des Mediums kurz angesprochen. Es gebe nun „keinen Hilferuf mehr per Blog. Ich übergebe alles dem Papier. Und nenne es dann eben Roman. Das ist es auch in seiner Geschriebenheit.“ Lassen wir diese Plattitüde über die Gattung des Romans mal unkommentiert, sehen sie nachsichtig als hilflose Oberflächlichkeit eines desolat gewordenen Schreibers und halten nur fest, dass die funktionale Ästhetik eines Blogs für das, was erzählt wird, keine Rolle spielt.
Seine Funktion, Öffentlichkeit zu erzeugen und zu wahren, dafür umso mehr. Denn Justus Mall richtet sich mit seinen Briefen an eine unbekannte (!!!) Geliebte, der er seine Lebens- und Liebesgeschichten ausbreitet. Anlass des Ganzen ist eine doppelte Abweisung, zum einen durch seine Frau Gerda, zum anderen durch die Geliebte Silke. Eine klassische Walser-Konstellation also, ein Mann, ein älterer zudem, zwischen zwei Frauen, das kennen wir schon, zumal aus den letzten Büchern des Autors, aus Muttersohn (2011), Die Inszenierung (2013) oder auch Statt etwas oder Der letzte Rank (2017). Und auch das Briefeschreiben an eine (zumindest zunächst weithin) unbekannte Frau ist bekannt aus Das dreizehnte Kapitel (2012). Und doch ist etwas anders. Im letztgenannten Roman wurde aus der erst einmal einseitigen Kommunikation ein Briefwechsel mit all seinen emotionalen Verstrickungen, hier richten sich die Briefe an einen resonanzfreien Raum, denen nur noch die, am Ende schwindende, Hoffnung eingeschrieben ist, es gebe sie, die unbekannte Geliebte. Aber es gibt sie halt nur noch als Leerstelle, der man umso mehr Gar alles glaubt, offenbaren zu müssen.
Es ist gerade diese Mitteilungssucht, die das Missverständnis provozieren könnte, bei den zahlreichen Briefen handele es sich um eine gut einhundertseitige Parship-Annonce. Das sind sie mitnichten. Angelegt sind die Briefe viel mehr als Lebensverstrickungsbeichte, für die der Schreibende etwas wie Absolution erwartet. Der Walser-Lesern hinlänglich bekannte Erzählkosmos wird darauf ausgerichtet und das heißt auch: die amourösen Erfahrungen und Phantasien werden schonungslos aufgefächert. Anders aber könnte es auch nicht gehen, würde, was als Rechtfertigung und Lossprechung beabsichtigt ist, unehrlich, Fassadenprosa.
Deshalb kreist Justus Malls Schreiben um seine Lebenszuschnitte, vom bayrischen Oberregierungsrat im Justizministerium zum Philosophen, der „zwei eher dünne Bücher“ geschrieben hat, eines über den Irrtum als Erkenntnisquelle, ein anderes über „Die Lüge als Mutter der Wahrheit“. Vielleicht heißt es aber auch, wie später erwähnt ‚Die Wahrheit als Mutter der Lüge‘, man weiß es halt nicht genau. So ist der gesamte Text ein Vexierspiel zwischen leichten Verschiebungen, und das auf unterschiedlichen Ebenen.
Ich habe schon mehr als einmal bei Nahestehenden Unverständnis und Missbilligung geerntet durch nichts als meine Empfindungen. Mir geht diese immer drastischere Verurteilung meiner Empfindungen auf die Nerven.
Wer solche Sätze liest, muss sich geradezu anstrengen, sie nicht als Selbstbeschreibung des Autors zu lesen, der recht offen auf seine Rolle nach der Paulskirchenrede, auf Antisemitismusvorwürfe und andere Zumutungen anzuspielen scheint, den Autor also nicht mit der Figur zu verwechseln. Zugleich aber sind für die Lektüre des Buches die Bemerkungen aus dem Rezensionsdickicht alles andere als hilfreich, die im ersten Teil eines Satzes betonen, man dürfe ja Autor und Erzählfigur tunlichst nicht miteinander verwechseln, um die Aussage im zweiten Teil mit einem einleitenden „aber“ zu versehen, also genau das zu tun und spöttelnd die Fortsetzung altersgeiler Männerphantasien im Walserschen Werk zu behaupten.
Ja, die Hauptfigur (im übrigen zunächst noch im Beamtendienst und damit wohl rund 30 Jahre jünger als sein Autor) erzählt reichlich von der Begegnung mit „steilen Brüsten“ und einer „trockenen Scheide“ (im übrigen stammt diese abschätzige Bezeichnung der Nachbarin ursprünglich von Malls Ehefrau Gerda). Er artikuliert ungeschützt seine Schwierigkeiten, sich zu seinen Beobachtungen und sich daran entzündenden Gedanken zu verhalten. Dass als ironischen und der Mainstream-Meinung gegenläufigen Beitrag zur #metoo-Debatte zu deklarieren, ist jedoch geradezu fahrlässig gegenüber dem damit verbundenen Anliegen, weil es die mit den Übergriffen einhergehende sexistische Machtausübung unterschlägt. Mall ist aber keiner, der Macht ausübt, er ist ’nur‘ ein ziemlicher lächerlicher Trottel, der über einen ebenso lächerlichen Vorfall strauchelt, nämlich aufgrund des unbedachten, wenn nicht gar zufälligen leichten Berührens des Oberschenkels einer Praktikantin in einer Pause von „Tristan und Isolde“, also ironisch platziert in den Kontext der großen Wagnerschen Liebes-Oper.
Mall ist dabei nichts anderes als der Protagonist dessen, was Odo Marquard in seinem Essay Der angeklagte und der entlastete Mensch (1978) als „Übertribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit“ bezeichnete. In diesem Essay hatte Marquard den „totalen Legitimationszwang für jedermann“ herausgearbeitet, den er geschichtlich im Übergang von der Theodizee zur Geschichtsphilophie in der Mitte des 18. Jahrhunderts verortet. Er konstatierte in diesem Zusammenhang den Verlust der Gnade Gottes, der als Instanz der Rechtfertigung demontiert worden sei. Als Modell einer fehlschlagenden Rechtfertigung tritt hier nun dieser Justus Mall auf, der in der eigenen Studentenzeit in den siebziger Jahren über seine spätere Ehefrau Gerda auf Odo Marquard stieß und seither „der Leser dieses Philosophen“ blieb. Im Fehlen einer Rechtfertigungsinstanz, die Mall sich in den Briefen ebenso mühselig und – wie sonst? – unbeholfen, aber sprachmächtig konstruiert, liegt das Dilemma seiner fortgesetzten Erotomanie. Um es mit einem Zentralbegriff aus der Philosophie Marquardts zu formulieren: Malls Verhalten entpuppt sich als ich- und liebesfixierte Inkompetenzkompensationskompetenz voller Vergeblichkeit. Insofern steht die Briefsammlung den gesellschaftlichen Debatten um ‚Correctness‘ viel weniger nah als philosophisch-religiösen Fragen.
Schlüssig, wenn nicht gar konsequent ist es, wenn sich am Ende des Textes Verben aus dem semantischen Feld des Fallens häufen. Hieß es in einem Gedicht, das einen der frühen Briefe an eine unbekannte Geliebte abschloss, Pflicht sei „sich / aus der Schwere / hocharbeiten“, so endet der letzte Brief aus der Sammlung mit dem Postskriptum:
PS
Wer
ich nicht
hätte
den Mut
zu klagen
ich
wie jeder
stürze
hilflos
und einzigartig
hinab.
Mehr ist weniger kaum zu sagen.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Roman. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2018 (18.- €)
Ergänzender Hinweis:
Odo Marquard wurde zitiert nach O.M.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. – Stuttgart; Reclam 1987 (RUB. 7724), insbesondere S. 47-51.