Die Rede
Man muss die Rede hören. Dann sehen. Dann lesen. In dieser Reihenfolge.
Hören
(Ich hätte mir gewünscht, einen Audiofile der Rede gefunden zu haben, den ich hätte einbetten dürfen. Er hätte es leichter möglich gemacht, sich nur auf das Gehörte der Rede zu konzentrieren. Die Audiospur aus dem Video zu extrahieren und als separaten File zur Verfügung zu stellen, war mir aus eventuell relevanten urheberrechtlichen Gründen zu riskant. Wer also die Rede nur hören will, klicke das eingebettete Video an, schließe die Augen oder schaue vom Bildschirm weg. So viel vorab.)
Wer die Stimme Michael Köhlmeiers kennt, merkt rasch, dass sie vom bekannten Klangbild abweicht. Sie wirkt leiser, zurückgenommener und auch eine Tonlage tiefer als sonst. In ihr mischt sich, so glaubt man wahrzunehmen, Trauer und Entsetzen mit leisem Trotz, Trotz zuerst gegen die eigene Ängstlichkeit. Köhlmeier spricht davon … oder eigentlich muss man genau sagen: er lässt eine fiktive Opferstimme sagen, man brauche doch keine Angst zu haben. „Wer“, so sagt diese Stimme, „kann dir in deinem Land, in deiner Zeit schon etwas tun, wenn du die Wahrheit sagst?“. So entschieden der Redner dieser Stimme zustimmt, so gegenläufig wirkt die eigene Vortragsstimme. Doch, unüberhörbar, er braucht Mut, um an dieser Stelle zu diesem Anlass vor diesem Publikum deutliche Worte zu finden.
Und findet sie. Trotz der Unsicherheit, die aus dem Vortrag herauszuhören ist.
Dabei hat Köhlmeier stilistische Sicherheitsgurte eingebaut, indem er mit der Perspektive spielt. Er baut, wie schon kurz erwähnt, eine zweite Sprecherfigur ein, ein fiktives Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, dessen bei der Veranstaltung gedacht werden soll. Er rückt so die Opfer in keinen abstrakten fernen Raum, sondern macht sie konkret und lässt sie zu Wort kommen. Es ist zunächst diese Opferstimme, die die schmerzhaften Fragen nach dem Verdrängen, Vergessen, Verharmlosen, ja auch Kokettieren mit NS-Ideologie und Antisemitismus formuliert. Wer da spricht, ist eigentlich nicht der Autor, er trägt es ’nur‘ vor. Aber beim Zuhören schwinden viel stärker als beim konzentrierten Lesen die Wahrnehmungsgrenzen für eigentliches und uneigentliches Sprechen. Während man beim Lesen zurückspringen kann in den Zeilen und Absätzen, sprachliche Ankerpunkte aufsucht und identifiziert, die die Perspektive eindeutig markieren, ist das beim bloßen Zuhören ungleich schwerer. So verwischen sich die Stimmlagen und werden, zumindest passagenweise, eins.
Auch das eine Form der Solidarität des Redners mit den Opfern, die er vor der Heuchelei anwesender Staatsvertreter zu schützen unternimmt. Es ist zugleich die authentische Gegenhaltung zu dem, was Köhlmeier als das „als ob“ der schmerzfreien Gedenkrede beklagt, der er sich verweigert.
Sehen
Die Videoaufzeichnung unterstützt wesentliche Aspekte der Höreindrücke. Köhlmeier ist ein routinierter öffentlicher Redner, da gibt es keine Zweifel. Aber auch beim Zuschauen wird die besondere Situation deutlich, in der er sich befindet. Der Kopf erscheint mehr als bei anderen öffentlichen Auftritten eingezogen zwischen den Schultern, so als könne er nicht ausschließen, sich wegducken zu müssen.
Aber und zugleich: er duckt sich nicht.
Dem Beobachter ist klar: Lang wird diese Rede nicht. Da liegen zwei Blatt im Format DIN A4 auf dem gläsernen oder plexigläsernen Rednerpult, einseitig beschrieben. Dabei scheint dieses Pult auf mehr Redemanuskript ausgelegt zu sein, so groß ist die Ablagefläche. Die beiden Blätter wirken darauf beinahe verloren. Immer wieder greift Köhlmeier nach ihnen, schiebt die Blätter ein wenig hin und her. Im Redetext weicht er kaum vom Manuskript ab, manche Passagen liest er vor. Die müssen genauso kommen wie notiert, erlauben keine Versprecher, einzelne Lesefehler werden nicht überspielt, sondern korrigiert. Der Redner braucht Sicherheit, um mutig zu sprechen, um mutig so zu sprechen. Denn er weiß, er liest seinen Zuhörern die Leviten, nicht nur den anwesenden Mitgliedern der Regierungsparteien, allen voran jenen aus Reihen der FPÖ. Allen, auch jenen, die nicht merken oder merken wollen, dass sich hinter den Gedenktagszeremonien und Gedenktagsrhetoriken Strategien der Verharmlosung und der kalkulierten Gegenläufigkeit verbergen.
Lesen
Die das schmale dtv-Bändchen mit Reden gegen das Vergessen eröffnende Wiener Gedenkrede weicht nur marginal vom Text des Vortrags ab. Offensichtliche Versprecher sind stillschweigend korrigiert, die Mehrfachanrede der „jungen Menschen“, die durch ihre Beiträge die Feier wesentlich mitgestaltet hatten, wird durch die etwas distanzierter wirkende Bezeichnung „Schüler“ ersetzt. Inhaltliche Abweichungen gibt es nicht – von einer Ausnahme abgesehen.
Köhlmeier erwähnt im Vortrag zu Beginn eine Bemerkung des Nationalratspräsidenten Sobotka, der offenbar im Rahmen der gleichen Veranstaltung, appelliert hatte, den Mut zu haben, die Dinge beim Namen zu nennen. Nichts anderes also tue der Redner hier als das, wozu er prominent aufgefordert wurde. Zugleich ist es argumentativ ein geschickter Zug, den er unternimmt, gehört Sobotka doch selbst zu den Vertretern der rechtskonservativen Regierungskoalition, aus denen sich die populistischen Brunnenvergifter rekrutieren. In der Druckfassung aber braucht es derlei Vergewisserung nicht.
Umso schärfer und entschiedener aber wirkt die Frontstellung: „Erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle.“ Kurz skizziert er seine Absicht, die sich bescheidener kaum anhören, aber als moralische Selbstverpflichtung kaum anspruchsvoller sein kann: “ den Ermordeten des NS-Regimes […] in die Augen sehen zu können“. Der Weg zu einer solchen Haltung ist nicht der des strengen rationalen Diskurses, nicht die Reminiszenz an solide und verlässliche historische Aufarbeitung der Verbrechen, sondern die Einbildungskraft. Sie erlaubt Köhlmeier den schon mehrfach angesprochenen Perspektivwechsel. Nicht der Redner stellt Fragen an die Vergangenheit, sondern die vorgestellte Opferstimme richtet sich an die Gegenwart. Mit der Formulierung „[…] höre ich fragen […]“ bringt er gleich drei Mal diese Opferstimme zum Klingen, als Fragende und als in ihren Fragen Mahnende zugleich. Die folgende, in den Medien oft zitierte Bemerkung gewinnt ihre Dignität nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie eben nicht als moralischer Appell, sondern als Opfererfahrung formuliert wird:
Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.
Zwei weitere Absätze lang hält Köhlmeier die Perspektive bei, um sie dann aber ausklingen zu lassen und in die eigene Stimme zu überführen. Noch einmal hebt er an, eine unsägliche Kontinuität der Verbrechensverharmlosung aufzuzeigen und zu beklagen. Er verweigert sich dem infamen Spiel, Antiislamismus als Philosemitismus zu verbrämen, klagt moralische Verkommenheit an, die sich darin äußere, dass das Schließen von Fluchtrouten, mit dem man heute meine, den Flüchtlingströmen begegnen zu müssen, auch schon NS-Opfern das Leben gekostet hatten.
Nicht einmal vier Druckseiten umfasst die Rede. Allein durch ihre Kürze entzieht sie sich schon der latenten Gefahr einer Selbstbeweihräucherung solcher Gedenktagsreden. Viel mehr als das ist sie eine Mahn- und Warnrede, die deutlich macht, dass es mit dem Nie-wieder-Gerede bei Lichte besehen nicht allzu weit her ist. Weniger weit her als es vielleicht schon einmal war – in einer Zeit, in der relativierende Bemerkungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit weniger salonfähig waren als im gegenwärtigen Österreich. Und an zahlreichen Stellen andernorts.
Die Reden
Michael Köhlmeiers Rede am 4. Mai 2018 in der Wiener Hofburg zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus eröffnet den Abdruck von insgesamt neun Reden, in denen sich der Autor bei unterschiedlichen Anlässen zum Umgang mit Geschichte geäußert hat. Diese Rede ist die jüngste; die älteste, zum Thema „Der Schriftsteller und die Politik“, stammt aus dem Jahr 1997. Beschlossen wird die Sammlung von einem Nachwort von Hanno Loewy, dem Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, Köhlmeiers Heimatstadt.
Weder in diesem Nachwort noch anderswo erfährt man etwas über die Auswahl der Reden und ihre achronologische Zusammenstellung. Warum diese Reden? Warum in dieser Reihenfolge? Fehlende editorische Überlegungen schmälern trotzdem den Wert dieses schmalen Taschenbuchs nicht. Die Reden haben in ihrer Gesamtschau nicht nur einen tagesaktuellen Wert, den vielleicht nicht einmal in erster Linie. Sie lassen zumindest in Konturen poetologische Grundüberzeugungen und Verfahrensweisen Köhlmeiers deutlich werden.
Wie ein roter Faden zieht sich durch seine Reden der Hinweis auf die eigentlich politikferne Ausgangslage seines Schreibens. Schon in der frühesten hier abgedruckten Rede heißt es lapidar: „Das Letzte, was mich beim Schreiben interessiert, ist Politik.“ Und so kreisen auch in den Reden Köhlmeiers Überlegungen immer um den Stellenwert des Erzählens, um die Aktivierung von Einbildungskraft und ihr poetisches und moralisches Potenzial. Zentrale Figuren seiner Reflexion werden ihm dabei die eigene Mutter und Großmutter und deren Umgang mit Politik und Geschichte, die in ihr Leben eingriffen. Dabei wird Lebensgeschichtliches in einen fiktionalen Rahmen gerückt, aus dem heraus Verantwortung für Geschehenes generiert wird. So bleibt Erzählen bei Köhlmeier immer mahnend und moralisch grundiert – ohne zu moralisieren. Hier kann man nachlesen, dass sich diese Haltung über die letzten beiden Jahrzehnte durch alle Äußerungen zieht. In der Rede vom 4. Mai 2018 fand sie ihren bis dato prominentesten Ausdruck.
Michael Köhlmeier: Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. Reden gegen das Vergessen. Mit einem Nachwort von Hanno Loewy. – München: dtv Verlagsgesellschaft 2018