Vorübergehende sind Mitmenschen auf Distanz. Sie kommen, aber sie kommen nicht auf dich zu. Sie gehen nicht nur, sie verschwinden. Vorübergehende sind Flüchtige, auftauchend für Momente, danach wieder weg – meistens ohne Nachhall. Das gilt auch für Vorübergehendes, für Plätze, Orte, Landschaften. Nur, dass du in Bewegung bist, und nicht das, was vorübergeht. Willst du es bannen, sei es um es doch noch festzuhalten, sei es um es auszuhalten, musst du es aufschreiben, erzählen. Aber ohne es wirklich heranzurücken. Dann verliert es die Qualität des Vorübergehenden. So wird etwa das Sitzen am Fenster eines Zugabteils zur Chiffre für die Haltung desjenigen, der das Vorübergehende beobachtet.
Hinauslehnen verboten! Besser lässt sich unsere Situation nicht beschreiben. Immer schön hinter dem Fenster bleiben, zusehen, wie die Welt zusammenbricht und sich wieder erholt, abwarten und Tee trinken, aber nicht hinauslehnen und eingreifen.
Wer spricht hier? Der Ich-Erzähler ist ein eigentlich in den Ruhestand getretener, trotzdem nach wie vor viel gefragter und erfolgreicher Motivationscoach. Zuvor war er Unternehmensberater gewesen mit zahlreichen Mitarbeitern, bis seine Firma die Digitalisierung verschlief und er seine Anteile mit Gewinn verkaufte. Seither hatte er von der grassierenden Coachingwelle profitiert und sich mit seinem Programm des „Stärken stärken, Schwächen schwächen“ einen internationalen Namen gemacht. Scharlatenerie, so sieht er es nüchtern, die ihn zum Zeitgeistcharakter macht.“Wir“ – damit meint er sich und seine Coachingprofession –
waren berühmt geworden, weil wir erfolgreich so taten, als ob wir wüssten, wo es langging, Stärken stärken, Schwächen schwächen, und dann auf in den Kampf bis zum Ende. Damit war nun Schluss, hatte ich beschlossen, den Rest des Lebens wollte ich der Eigenökonomie widmen, meiner Seele und meinem Seelenfrieden.
In dieser Lebenslage lernen wir den Mann kennen. Michael Krüger reflektiert in ihm nicht nur einen alt gewordenen Managertypus, nein, der Ich-Erzähler entpuppt sich weit mehr als Intellektueller, dem seine Umwelt immer auf Distanz bleibt. Genau betrachtet war er immer und ist er noch ein Melancholiker und ein Einsamer, der zwischen sich und der Außenwelt die Reflexion rückt wie ein Trennwand. Er ist ein Schauender auf das, was ihn umgibt, er ist mehr noch ein luzide Durchschauender, dem die Zurichtungen der Welt, die ihm begegnen, weithin zuwider sind. Er schildert sie in zahlreichen Abschweifungen, die lange Zeit den eigentlichen Kern des Romans ausmachen, ein wenig todesfasziniert, hellsichtig, kritisch, aber kaum engagiert. Einem Migranten auf einer Zugfahrt die fehlende Fahrkarte zu bezahlen, nicht zuletzt um dem keifenden Rassismus einer Mitreisenden zu begegnen, ist das höchste Maß des Protests. Selbstkritisch bezeichnet er sich als „Asozialer in besten Verhältnissen, der er sich leistete, Bildung ohne Ziel und Zweck anzuhäufen“.
Diese Einrichtung in sein Leben gerät jedoch unter Druck, als er plötzlich konkret Verantwortung übernimmt. Auf einer Zugfahrt, irgendwo auf der Höhe von Göttingen, schläft er ein, und als er wieder aufwacht, lehnt ein Flüchtlingsmädchen ebenfalls schlafend an seiner Schulter. Der Versuch, dessen Mutter zu finden, scheitert, und er nimmt das Kind mit zu sich nach München. Er wird auch in den nächsten Monaten nicht herausfinden, woher das Mädchen stammt und welche Muttersprache es spricht, aber ihm gelingt es, mit Unterstützung einer Nachbarin und in Absprache mit dem Jugendamt, dem Kind eine Zuhause zu bieten und sich um es zu kümmern.
Das Mädchen, um das er sich wirklich liebevoll sorgt, wird für ihn zu einer Vorübergehenden, die aber, es mag paradox klingen, bleibt, zumindest für lange Zeit. Jara, so ihr Name, behält immer etwas Fremdartiges, besitzt etwas Mignonhaftes, in der die Ferne nah aufscheint. Ihre besonderen zeichnerischen Fähigkeiten faszinieren den Erzähler und lassen ihn faszinierende chiffrenhafte Weltentwürfe in ihren Bildskizzen entdecken.
Von Beginn an ist ihre Beziehung geprägt von der Furcht des Erzählers, dass Jara ihn wieder verlassen könnte. Als nach rund einem Jahr dieser Moment eintritt, gerät er in Panik. Woher der Erzähler die Überzeugung nimmt, sie sei tot, ist dem Roman auch nach mehrmaligem Lesen nicht zu entnehmen. Mag sein, dass die Annahme hier auch wichtiger ist als die Tatsache. Das Ende bleibt offen.
Warum?
Es gibt kein Ende, niemals. Wir werden nur müde von den Stimmen, die uns am Leben halten und uns gleichzeitig vom Leben abhalten. Den immer gleichen Stimmen. Aber die Geschichte geht natürlich weiter.
Michael Krüger hat einen irritierenden Roman geschrieben, voller kluger, altersweiser und zugleich selbstironischer Reflexionen. Reflexionen, die die Handlung in den Hintergrund treten lassen, und das Risiko in Kauf nehmen, den Roman als Erzähltext langweilig erscheinen zu lassen. Vorübergehende ist es wert, dieses Risiko in Kauf zu nehmen.
Michael Krüger: Vorübergehende. Roman. – Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2018 (19,90 €)
Für das Beitragsbild wurden lizenzfreie Fotos des Wehrstegs an der Isar vor der Lukaskirche in München und des Sitzplatzes in einem Zug verarbeitet.