Du betrachtest gerade Peggy Mädler: Wohin wir gehen

Peggy Mädler: Wohin wir gehen

Der Zug fährt am See entlang, am Ufer schaukeln Boote. Kristine versucht sich den Sommer vorzustellen, sie stellt sich Almut in einem sonnenbeschienenen Kirchmöser vor und sieht in der Scheibe Ellis Gesicht.

Jetzt bist du der Mensch, der mich am längsten kennt, sagt das Gesicht in der Scheibe, und ist dabei voller Regentropfen.

So endet nach nur 220 Seiten Wohin wir gehen. Diese Schlussworte fangen die von Wehmut und Melancholie durchmischte, aber niemals weinerliche Grundstimmung des gesamten Romans im Bild noch einmal ein. Da sitzen sich zwei Frauen gegenüber, die eine lange, intensive und tiefe Freundschaft miteinander verbindet. Sie ist durch so viel Zugewandtheit und Vertrauen geprägt, dass die eine, Elli, der anderen, Kristine, die Betreuung der Mutter in die Hand geben konnte, als sie ihrem Mann von Berlin nach Zürich gefolgt war, um dort auch selbst als Dramaturgin arbeiten zu können. Jetzt am Ende des Romans ist Ellis Mutter Almut verstorben. Die beiden Frauen fahren vom Begräbnis aus zurück, zunächst nach Berlin.

Elli und Kristine sind Vertreterinnen einer Generation, die ein Lebensmuster fortsetzen, das schon das ihrer Mütter und Großmütter prägte. Was alle miteinander über die Zeiten hinweg und zugleich durch die Zeiten bedingt prägt, ist das Weggehenmüssen, dieses unfreiwillige Hintersichlassen von Heimat, weil die Verhältnisse es nicht erlauben. Bei den Jungen sind es die ökonomischen Zwänge, die die im Kulturbereich tätigen Frauen ständig auffordern und nötigen, der Arbeit hinterherzuziehen, will man nicht in prekäre Verhältnisse abrutschen. Sie erscheinen so als Nomaden des Kulturbetriebs.

Bei den Älteren sind es die politischen Verwerfungen, Brüche und Umbrüche, die das 20. Jahrhundert in Deutschland prägten. Ebenso prägend war aber auch hier eine Frauenfreundschaft, die zwischen Almut und Rosa. Beide wuchsen in den vierziger Jahren in Böhmen auf, Brünn war ihr Lebensmittelpunkt. Almut ist die Tochter einer Deutschen und eines Tschechen und erlebt als Kind dieser politisch unerwünschten Beziehung Hass und Ausgrenzung. Rosas Mutter Ida ist überzeugte Kommunistin und engagiert sich wie ihre ganze Familie im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Als nach dem Krieg alle Deutschen die Tschechoslowakei verlassen müssen, nimmt Rosa Altmut auf. Deren Eltern waren mittlerweile tot, der Vater durch die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten ermordet; die Mutter suchte den Freitod.

Almut und Rosa wachsen gemeinsam in der sich gründenden DDR auf. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten „Umsiedler“, ein sprachregelnder Begriff, der die Flüchtlinge aus den Ostgebieten bezeichnete. In der mit weitreichenden Enteignungen einhergehenden Bodenreform in den Gründerjahren der DDR wurde unter anderem für die Ansiedlung dieser Umsiedler Fläche gewonnen. Nicht zuletzt aufgrund dieses Umstands waren sie lange Zeit Ressentiments der grundständigen Bevölkerung ausgesetzt.

In diesem gesellschaftlichen Umwälzungsprozess etabliert sich aber Ida zunehmend im SED-Apparat und entwickelt sich zu einer ausgesprochen unangenehmen Betonkopfstalinistin. Ihr eingefrorenes Weltbild führt schließlich zum wachsenden und schließlich eskalierenden Konflikt mit ihrer Tochter Rosa, die mittlerweile wie Almut eine Lehrerinnenausbildung absolviert hatte. Rosa hält die Situation nicht mehr aus und geht in den Westen. Um die Sicherheit ihrer Freundin Almut zu wahren, hatte sie nicht einmal ihr von ihren Fluchtplänen erzählt. Dass Freundinnen sich trennen müssen, taucht motivisch hier zum ersten Mal auf und wird sich Jahrzehnte später, wie erwähnt, wiederholen.

Von Ende her gesehen entwickeln sich so die Handlungsfäden des Romans, der mit der inhaltlichen Auffächerung der Schicksale aber noch nicht allein seine nachdrückliche Wirkung entfaltet. Was den Leser einnimmt, ist mehr noch die Art und Weise, wie Peggy Mädler diese Geschichte(n) erzählt. Sie benötigt nur wenige, wohl gesetzte Striche, vielleicht müsste man sogar genauer sagen: Tupfen, um das große geschichtliche Panorama, das die Lebensgeschichten der Figuren prägt, bis in die Gegenwart zu führen, die Fährnisse, die Kontinuitäten und Verwerfungen aufzuzeigen und in ihren Folgen für die Betroffenen kenntlich zu machen.

Zugleich spannt sie noch ein weiteres Bedeutungszelt auf. Nahezu jedes Kapitel beginnt mit einer, kursiv abgehobenen, Ortsbeschreibung. Die dabei entstehenden Erzählräume sind immer weit, und ihnen eingelagert wie Sedimente sind Spuren von Vergangenem, auch von kulturellen Überresten, weiter zurückreichend als nur bis ins letzte Jahrhundert. Erst wenn dieser Raum geschaffen ist, bewegen sich darin die Figuren. Ein Verfahren, das durchaus an Romananfänge Fontanes erinnert, des Namensgebers für jenen Literaturpreis, den Peggy Mädler in diesem Jahr für ihren Wohin wir gehen erhalten hat.

Der Erzählton aber erinnert viel mehr an die Prosa Christa Wolfs, nur weniger der Gefahr ausgesetzt, ist Weinerliche abzugleiten oder in Lehrsätze einzumünden. Davor bewahrt den Roman die ihm eingeschriebene tiefe Bedeutung von Freundschaft. Von Freundschaft, der das Pathetische fehlt, das etwa den Freundschaftskult des ausgehenden 18. Jahrhundert befremdlich erscheinen lässt. Seine Melancholie bewegt sich diesseits der Trauer und wahrt darüber seine große poetische Genauigkeit. Wohin wir gehen ist ein Roman von überzeugender Eindringlichkeit.


Peggy Mädler: Wohin wir gehen. Roman. – Berlin: Verlag Galiani 2019.

Bildnachweis: Pixabay