Die Reihenfolge, in denen man die Bücher eines Autors liest, entspricht nur selten der Chronologie ihrer Veröffentlichung. So ist es mir auch gegangen mit Robert Seethalers Roman Der Trafikant. Anfang des Jahres hatte ich Seethalers kleinen Roman Ein ganzes Leben gelesen und sah mich in die Reihe der Begeisterten eingereiht. Ich war beeindruckt von der sorgfältigen und leisen, unspektakulären und unaufdringlichen, aber doch sehr genauen Art und Weise, in der sich der Erzähler dem Leben dieses Andreas Egger zuwendet und ihn über einen rund ein Dreivierteljahrhundert dauernden Lebensweg begleitet. Er dokumentiert im Hintergrund historische, gesellschaftliche und soziale Umbrüche, hält technische Entwicklungen fest, die das Leben der Menschen tiefgreifend veränderten, und zeigt dem Leser eine Figur, die sich in beeindruckender Weise arrangiert mit seinem Schicksal, was auch immer ihn trifft. Dann liest man den Trafikant, der im Jahr 2012 erstmalig erschienen ist, und ist mit einer gänzlich anderen Figur konfrontiert; so scheint es auf den ersten Blick.
Kurz zur Handlung: Nachdem ein Geliebter der Mutter plötzlich verstorben ist, verlässt der siebzehnjährige Franz Huchel sein Heimatdorf am Attersee im Salzkammergut. Aus Gründen, die etwas fadenscheinig bleiben, schickt seine Mutter ihn nach Wien. Dort soll Franz bei einem anderen ehemaligen Geliebten, der allerdings auch nicht Franz‘ Vater ist, eine Arbeit finden. Franz folgt dem Rat seiner Mutter und reist von der tiefsten Provinz in eine der großen europäischen Metropolen. Über Postkarten, später auch Briefe hält Franz Kontakt zu seiner Mutter, ahnt aber ebenso wenig wie sie, dass sie sich nie mehr wiedersehen werden.
In Wien kommt der Junge in die Obhut des Trafikanten Otto Trsnjeks. Eine Trafik ist in Österreich das, was wir in Deutschland wohl als einen Kiosk bezeichnen würden, ein Laden also, in dem man Zeitungen, Zeitschriften, Tabak und alles, was dazu gehört, kaufen kann. Dieser Otto Trsnjek ist ein schwer verwundeter Weltkriegssoldat, ein Mann mit sozialdemokratischen und auch sozialistischen Überzeugungen, vor allem aber jemand mit einem genauen Blick für die Belange dieses Jungen. Denn er erwartet von ihm weniger, dass er ihm in der Trafik zur Hand geht (was Franz auch tut), als vielmehr dass er regelmäßig und Tag für Tag die Zeitungen liest. Über diese Lektüren öffnet sich dem Jungen ein anderer Blick auf die Welt als der, den die Provinz ihm bislang ermöglicht hatte.
Dieser erweiterte Blick ist notwendig, denn die Handlung des Romans spielt in bewegten Zeiten. Sie erstreckt sich über rund ein Jahr vom Spätsommer 1937 bis in den Sommer des Folgejahres. Extrem bewegte Monate, die hier mit dem Hinweis auf die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland im März 1938 nur unzureichend umschrieben werden können. Verständlich aber wird, dass Otto Trsnjek mit seiner politischen Haltung auf der anderen Seite dessen steht, was sich in dieser Zeit in Österreich mit Gewalt Bahn bricht. Franz Huchel wird aber nicht nur Zeitzeuge der politischen Entwicklungen, die das Land seit Jahren destabilisieren und schließlich als autonomen Staat zusammenbrechen lassen; prägend sind für ihn zunächst zwei andere Begegnungen.
Zum ersten Mal in seinem Leben verliebt sich der junge Mann. Mit der etwas älteren Anezka macht er seine ersten sexuellen Erfahrungen, muss aber zugleich sehr intensiv erleben, dass seine Erwartungen an die Liebe zu ihr nicht erfüllt werden. In seiner emotionalen Not wendet er sich an einen Stammkunden der Trafik. So wie er sich vorstellt, was dieser Mann beruflich macht, könnte er ihm vielleicht helfen. Dieser Mann ist der mittlerweile 81-jährige Sigmund Freud. Die Beziehung dieses ausgesprochen ungleichen Paares rückt immer stärker in den Mittelpunkt des Romans. Freud wird für den jungen Mann zu einer väterlichen Autorität, dessen Rat er sucht, den er aber augenscheinlich nicht bekommt. Denn der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse entpuppt sich in der Angelegenheit, die Franz bewegt, auf den ersten Blick als ziemlich inkompetenter Ratgeber. Aus dessen Liebesnot weiß Freud nur einen sehr allgemein gehaltenen Ausweg:
Die richtige Frau zu finden ist eine der schwierigsten Aufgaben unserer Zivilisation. Und jeder von uns muss sie vollkommen alleine bewältigen. Wir kommen alleine zur Welt, und wir sterben alleine. Doch gegenüber der Einsamkeit, die wir empfinden, wenn wir zum ersten Mal vor einer schönen Frau stehen, wirken Geburt und Tod geradezu als gesellschaftliche Großereignisse. In den entscheidenden Dingen sind wir von Anfang an auf uns selbst gestellt. Wir müssen uns immer wieder fragen, was wir möchten und wohin wir wollen. Anders gesagt: Du musst deinen eigenen Kopf bemühen. Und wenn dir der keine Antwort gibt, frag dein Herz!
Eine Abfolge von Platitüden, so scheint es. Aus derlei Äußerungen sind durchaus kritische Bemerkungen zum Roman abgeleitet worden. Man äußerte Unverständnis gegenüber der Figurengestaltung. Sie beschränke sich darauf, den alten, kranken Greis vorzuführen, der nicht weiß, wie er dem Anliegen des jungen Mannes begegnen soll. Er berücksichtige überhaupt nicht den Mann, der mit seinem letzten großen Werk ringe – gemeint ist Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Damit tut man dem Roman, so scheint mir, Unrecht, denn man hält ihm vor, was er nicht leisten will. Freud tritt immer aus der Perspektive eines personalen Erzählers auf, der den Blick Franz Huchels auf Freud schildert. Freud erscheint so , wie der junge Mann ihn wahrnimmt. Und der weiß von der Psychoanalyse nur, was man vom Hörensagen wissen kann; vom Mann Moses weiß er schon mal gar nichts.
Außerdem ist Freud für ihn gar kein so schlechter und einflussloser Ratgeber wie es zunächst scheint. Was der nämlich am Ende der oben zitierten Textpassage formuliert, wird Franz im Fortgang des Romans zur Handlungsmaxime. Nur wenige Tage nach dem sogenannten „Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich“ am 13. März 1938 wird Otto Trsnjek von der Gestapo brutal zusammengeschlagen und abgeholt. Zum ersten Mal bezieht Franz klare Position und versucht, wenn auch völlig aussichtslos, den Trafikanten vor den NS-Schergen zu schützen. Trsnjek bleibt verschwunden; der junge Mann übernimmt wie selbstverständlich die Trafik und tritt an dessen Stelle; er wird der Trafikant. Aber er tut noch mehr, denn er hakt beharrlich nach und will wissen, wo Otto Trsnjek verblieben ist. Seine Auftritte im Hotel Metropol, der Zentrale der Gestapo in Wien, enden wie erwartet. Ist der junge Mann naiv, wenn er glaubt, mit seinem hartnäckigen Nachfragen nach dem Verbleib des Trafikanten könne er etwas erreichen? Oder wird er zu einer Art Simplicissimus, dessen Einfalt den Blick auf die brutale Wirklichkeit erst ermöglicht? Mir scheint es beinahe wichtiger, diese Fragen zu haben als sie beantwortet zu wissen. Sicher aber ist, hier begehrt kein intellektueller Kopf auf, hier zeigt sich eine widerständige Humanität, die, wie Freud riet, aus dem Herzen agiert, wenn der Kopf keine Antwort mehr weiß.
Die Handlung schließlich kommt zum Höhepunkt, als drei Erzählstränge zusammenlaufen. Franz entdeckt, dass Anezka ein Verhältnis begonnen hat ausgerechnet mit einem Mann der Waffen-SS, er erhält unter Beifügung eines amtlichen Schreibens die verbliebenen Habseligkeiten Otto Trsnjeks, der bedauerlicher Weise im KZ verstorben sei, und er erfährt, dass Freud Wien verlässt und ins Exil geht. Bei ihrer letzten Begegnung, die nur möglich wurde, weil Franz die Gestapo auszutricksen verstand, gibt „sein“ Professor erneut die entscheidenden Impulse
Immerhin kommen mir die meisten Wege schon irgendwie bekannt vor. Aber eigentlich ist es gar nicht unsere Bestimmung, die Wege zu kennen. Es ist geradezu unsere Bestimmung, sie nicht zu kennen. Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen. Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum, und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen. Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!
Erneut endet Freuds kurzer Monolog mit einer Aufforderung, und Franz Huchel wird sich daran orientieren. Er setzt dieses Zeichen, indem er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine NS-Flagge vor dem Hotel Metropol von der Fahnenstange holt und stattdessen die Hose Otto Trsnjeks hisst, die man ihm aus dem KZ zurückgeschickt hatte. Wie das letztlich endet, muss hier nicht weiter berichtet werden. Auch Franz Huchel verschwindet wohl in den Folter- und Vernichtungskellern der braunen Verbrecher.
Robert Seethaler hat eine Art Bildungsroman erzählt, indem er eine Hauptfigur vorstellt, der es gelingt, seine genuinen humanen Charaktereigenschaften in eine politische Haltung einmünden zu lassen, die sich zur Wehr setzt gegen Unrecht und Verbrechen. Franz Huchel hat, mag man sich lesend auch noch so schwer tun mit seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Naivität, etwas Vorbildhaftes. Mehr jedenfalls als dieser Andreas Eggers aus Seethalers Nachfolgeroman Ein ganzes Leben. Beide verbindet einiges: ihr vermeintlicher Gleichmut gegenüber dem eigenen individuellen Schicksal, ihr scheinbares oder offensichtliches Sich-Abfinden. So beginnt, so endet Ein ganzes Leben, und es ist dieser vorgestellte Gleichmut, der die Leser für diesen Roman gewann, der sie berührte. Wie mich auch. Rückblickend aber, jetzt von Der Trafikant auf Ein ganzes Leben blickend, stellt sich mir die Frage doch anders. Ist Andreas Egger, dieser Hiob ohne Gottesbezug, nicht letztlich doch die weniger interessante Figur als Franz Huchel? Eine Frage, über die nach der Lektüre von Der Trafikant nachzudenken allemal lohnt.
Robert Seethaler: Der Trafikant. Roman. -14. Aufl., Zürich, Berlin: Kein und Aber Pocket 2015 (11,00 € )
Weitere Rezensionen: FAZ, Literaturen, Diskussion im Schweizer Literaturclub vom Januar 2013