Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?
Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. […]
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören.
Nein, nein, niemand, der Roger WIllemsens letzte öffentliche Rede schon kennt, deren Manuskript Grundlage war für das vorliegende schmale Buch, hat etwas überlesen. So viel Emphase wie hier im Zitat steht dem Betrachter der aktuellen Verhältnisse nicht mehr zur Verfügung, eher im Gegenteil. Aber der Kontrast erhellt. Die Eingangspassage zitiert Ernst Blochs Vorwort aus seinem Opus magnum Das Prinzip Hofffnung, das zwischen 1938 und 1947 im amerikanischen Exil entstanden und zwischen 1954 und 1959 zuerst in der DDR veröffentlich worden war. Wie schon mit seinem Frühwerk Geist der Utopie (1918) reagierte Bloch auf die Katastrophe des globalen Krieges und seiner Vernichtungsmaschinerien und arbeitet erkenntnistheoretische, anthropologische, moralphilosophische und ästhetische Grundlagen für die Bedingungen einer besseren Zukunft heraus. Noch-nicht, das ist nicht Utopie in konkreter Gestalt wie zum Beispiel Thomas Morus‘ Utopia, kein Modell einer gestalteten Zukunft, erst recht kein Science-Fiction, sondern es ist – insofern Bloch die existenzialistische Sprechweise verzeiht – der Seinsgrund, der zum Aufbruch in ein besseres Morgen bewegt.
Beeindruckt immer noch von der philosophischen Substanz, den herausgearbeiteten kulturgeschichtlichen Zusammenhängen und nicht zuletzt von der Sprache, ihrer expressionistischen Wucht, ihrem über 1600 Seiten nie nachlassenden Aufbruchston, liest man dergleichen trotz allem mit Unbehagen. Dessen Quelle ist das Hier und Jetzt, ist das offensichtliche Nichtangekommensein Blochscher Hoffnungspotentiale, ist die skeptische Frage, wo sie denn seien, diese „Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen“, warum man selbst auch nicht zu jenen gehört. Dann wird man aufmerksam auf das schmale, ganz schmale Bändchen Wer wir waren von Roger Willemsen. Dieser Text, als „Zukunftsrede“ untertitelt, ist so etwas wie sein Vermächtnis. Es hätte, wie Insa Wilke im Nachwort schildert, sein nächstes großes Buchprojekt werden sollen. Grundgedanken dazu hat er in zwei Reden entwickelt, die er im Juni und Juli 2015 hielt. Als WIllemsen einen Monat später mit der Krebsdiagnose konfrontiert wurde, hörte er aber auf zu schreiben und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb im Februar 2016.
Liest man Wer wir waren, neigt man dazu, in besonderer Weise mit seinem Tod zu hadern. Denn es ist zu ahnen, wie viel er uns noch zu sagen gehabt hätte. Der Name Ernst Bloch fällt in dieser Rede, diesem Essay oder wie immer man nennen mag, was da jetzt zwischen zwei Buchdeckeln vorliegt, kein einziges Mal. Dennoch entdeckt man Parallelen. Da ist vor allem die grundsätzliche Abkehr von landläufigen Begriffen und landläufigen Heilserwartungen. So wie Bloch den Begriff der Utopie rehabilierte und von trivialen Vorstellungen eines Wolkenkuckucksheims befreite, so weist Willemsen auf die Fragwürdigkeit unserer warenorientierten Utopien hin. In wenigen Strichen entlarvt er die wabernden Zukunftsbilder, die, was kommt, mit bunten Bildern aufhübschen und medial orchestrieren, als Kitsch und als Schwindel, und stellt lapidar fest: „Die Zukunft, das ist unser röhrender Hirsch über dem Sofa“. Mit Bloch wäre Willemsen einig: Alles ein Ausdruck falschen Bewusstseins. Was dem melancholischen Blick des verstorbenen Zeitgenossen aber nicht möglich ist, ist die mit kommunistischem Eifer betriebene Geißelung oder Verdrängung einer solchen Haltung, von der man weg will, um dorthin zu kommen, was zur BIldung des Humanen soll. Vielmehr ist es Willemsen ein Anliegen zu fragen, was denn das Heute ausmacht, und wählt die Zukunft als Perspektive, von der aus er zurückzuschauen versucht.
Erspare ich mit die müßige Frage danach, wie wir wohl künftig sein werden, und nutze die Zukunft vielmehr als Perspektive meiner Betrachtung der Gegenwart, dann werde ich nicht mehr fragen, wer wir sind, sondern wer wir gewesen sein werden.
Nachzeitig werde ich schauen, aus der Perspektive dessen, der sich seiner Zukunft berauben will, weil sie ihn schauert, im Vorauslaufen zurückblickend, um sich so besser erkennen zu können, und zwar in den Blicken derer, die man enttäuscht haben wird. Geradezu grenzenlos haben wir ja in allen Medien der historischen Rekonstruktion durch die Augen jener blicken gelernt, die waren und gingen. Vergleichsweise selten aber versuchen wir, uns im Blick jener zu identifizieren, die kommen und an uns verzweifeln werden.
Aus dieser Perspektive fragt Willemsen nach dem, was unser Bewusstsein ausmacht. Er bleibt dabei nicht auf das Heute beschränkt und greift weiter zurück bis zu den Welterschließungsbemühungen der Frühmenschen, um Ahnungen zu gewinnen, was unser Handeln und Denken prägt. Wie, so lautet stillschweigend die aus der angenommenen Zukunft gestellte Leitfrage, sind wir geworden, die wir gewesen waren. Der Befund ist nicht larmoyant, er ist nicht überheblich, nicht rebellisch, aber er ist wenig trostreich:
Wir waren die, die verschwanden. Wir lebten als der Mensch, der sich in der Tür umdreht, noch was sagen will, aber nichts mehr zu sagen hat. Wir agierten auf der Schwelle – von der Macht des Einzelmenschen zur Macht der Verhältnisse. Von der Macht der Verhältnisse in die Entmündigung durch Dinge, denen wir Namen gaben wie „System“, „Ordnung“, Marktsitiuation“, „Wettbewerbsfähigkeit“. Ihnen zu genügen nannten wir „Realismus“ oder „politische Vernunft“. Auf unserem Überleben bestanden wir nicht. Denn unser Kapitulieren war auch ein „Mit-der-Zeit-gehen“.
Was sich hier artikuliert, ist kein konservativer Kulturpessimismus, kein Sirenengesang vom Untergang des Abendlands, sondern die Sorge um das, was kommt, wenn es bleibt wie es ist. So endet der Text auch nicht mit einem Katastrophenszenario, sondern mit einem Bild, in dem dann doch der Geist einer Hoffnung gewahrt werden kann. Ohne Zweifel, Roger WIllemsen hätte dazu noch viel zu sagen gehabt. Hätte er dazu Gelegenheit gehabt, wäre vielleicht aus der Rede aus der Zukunft doch noch eine Rede auf die Zukunft geworden.
Roger WIllemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2016 (12.- €)