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Uwe Timm: Ikarien

Ab und an stellt sich schon während des Lesens eines Buches der erste Satz ein, mit dem ich den Blogbeitrag beginnen möchte. Und wenn das geschieht, hat häufig dieser Satz auch noch Bestand, wenn ich mit dem Schreiben beginne, meistens sogar auch noch, wenn der Beitrag fertig ist. Dass sich aber beim Lesen der letzte Satz, der, auf den es am Ende hinausläuft, einstellt, geschah bisher, insofern ich nichts vergessen habe, nie. Bei Uwe Timms Ikarien war aber ein solcher letzter Satz nach gut der Hälfte des Romans da, und ich war mir sicher, dass er sich nicht mehr verlieren würde. Der letzte Satz lautete:

Hat man das Buch nach rund 500 Seiten zugeklappt, dann hat sich der Eindruck gefestigt, ganz uninteressant sei es nicht gewesen, aber man habe nicht wirklich etwas verpasst, hätte man Ikarien nicht gelesen.

Doch dann, ziemlich gegen Ende, gibt es eine kleine Episode, im Grunde nur eine Äußerung, die eigene Erinnerungen aufblitzen ließ an ein Gespräch und eine Äußerung, die beunruhigende Bezüge erkennen lässt. Doch dazu am Schluss mehr.

Ikarien, ein Utopiensumpf

Im Mittelpunkt des Romans steht die Lebensgeschichte des Rassehygienikers  Affred Ploetz (1860-1940), nebenher bemerkt, der Großvater von Uwe Timms Ehefrau. Er gilt als der Begründer der Eugenik und kollaborierte in den 30er und 40er Jahren auf fatale Weise mit den Nationalsozialisten, die sich seine Weltanschauung wie seine Forschungen zunutze zu machen verstanden. In den Vordergrund rückt jedoch nicht Ploetzens NS-Vergangenheit, sondern sein intellektueller und weltanschaulicher Werdegang. Ploetz war in seinen jungen Jahren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein linker Idealist, der zutiefst überzeugt war vom Gedanken der Gleichheit aller und der Notwendigkeit zum sozialen Egalitarismus. Begeistert war er von den Ideen und Plänen des französischen Sozialrevolutionärs Étienne Cabet, der in seinem Roman Voyage en Icarie (1842) eine Gesellschaft vollkommener Gleichheit entworfen hatte, die er „Ikarien“ nannte. Anhänger einer solchen Sozialutopie versuchten, sie in den USA aufzubauen.1884 besuchte Ploetz die ikarische Gemeinde gemeinsam mit seinem engen Freund Wagner, lebte dort mehrere Monate und erfuhr ihr Scheitern unmittelbar, quasi vor Ort.

Diese Lebensepisode wird in Timms Roman zum auslösenden Moment für Ploetz, die moralische Verbesserung des Menschen, an deren Verwirklichung er festhält, durch rassebiologische Entwicklungen steuernd beeinflussen zu wollen. Auf dieser weltanschaulichen Grundlage entwickelte er in den Folgejahren rassebiologische Überzeugungen und die Eugenik als Wissenschaft – und jeder weiß, wie es endete.

Irrwege im erzählerischen Biedermeier

Für den Aufbau des Romans und die Entwicklung der Handlungszusammenhänge ist aber entscheidend, wie die Geschichte erzählt wird. Timm schickt den Leser dazu zunächst nach München unmittelbar nach dem Ende des Krieges. Der deutschstämmige Offizier Michael Hansen wird vom Militärstab beauftragt, die Geschichte des Alfred Ploetz und seines rassehygienischen Instituts aufzuarbeiten. Die Befreiung der KZs, vor allem die des KZs Dachau, und die ersten konkreten Eindrücke und Informationen über die Vernichtungslager waren offensichtlich ein wesentliches Motiv der amerikanischen Besatzungsmacht, Licht ins unvorstellbar grausig Dunkle zu bringen. Bei seinen Recherchen stößt Hansen schnell auf Wagner, der trotz gleicher intellektueller Herkunft wie Ploetz und trotz seiner bis zum Ende aufrecht erhaltenen freundschaftlichen Verbundenheit, einen anderen, entgegengesetzten Weg eingeschlagen hatte. Er blieb ein linker Anarchist, ging in den Widerstand gegen die Nationalsozialisten, war zeitweise KZ-Häftling in Dachau und konnte nur versteckt im Kellerloch einen Buchhandlung in München den Krieg überleben. Mit Wagner führt Hansen eine ganze Reihe von Interviews, die aufgezeichnet werden und die das Erzählgerüst für die Recherche der Lebenszusammenhänge Alfred Ploetzens darstellen.

Auf einer zweiten Erzählebene, die in alternierenden Kapiteln die Lebenserinnerungen Wagners unterbricht und zugleich orchestriert, erhält der Leser Einblick in den Alltag der Besatzungsmacht, der zunehmenden Aufweichung des Fraternisierungsverbots, den kleinen und manchmal auch größeren Privilegien der Besatzungsoffiziere in ihrer Villa am Ammersee und den erotischen Abenteuern des Michael Hansen. Auch wenn diese Figur durchweg blass bleibt und wenig Gestalt annimmt, so sind die Erzählpassagen, die im Nachkriegsmünchen und seiner Umgebung spielen, die unterhaltsameren. Sie gewähren, aus der Perspektive des jungen Offiziers, einen Einblick in die ersten Wochen und Monate nach der fälschlicherweise sogenannten „Stunde Null“. Neu ist das alles nicht, aber nun ja, es ist durchaus leicht erzählt, unterhaltsam im durchaus besseren Wortsinn.

Neu ist auch nicht die Einsicht, dass genuin linke Weltanschauungen schnurstracks in Sympathien für autoritäre und faschistische Systeme einmünden können. Doch das noch einmal vor Augen geführt zu bekommen, zu erfahren, wie eine solch schillernde Person wie Ploetz abgleitet in moralfreie Irrwege und Abgründe, die eigentlich überwunden werden sollten, könnte erhellend sein. Wäre es, ja wäre es nicht so betulich und so langweilig erzählt. Im Erzählverfahren liegt das Problem des Romans. Den Gesprächen, die Hansen mit Wagner führt, ist nahezu alles Gesprächshafte genommen. Die Figur des Michael Hansen bleibt reduziert auf die Rolle des bloßen Stichwortgebers, und Wagner selbst spricht wie gedruckt. Kein Gespräch, nahezu nirgends, weithin fast nur Sachtextprosa, ungebrochen linear erzählt. Die erzählerische  Ungebrochenheit, mit der Wagner sich erinnert, ist geradezu gespenstig und bleibt in dieser Form ein gutes Stück weit unglaubwürdig. In weiten Passagen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der biographische Kronzeuge formuliere das historische Sachbuch, das der mit einer umfangreichen Bibliographie abschließende Roman vielleicht ursprünglich hatte einmal werden sollen. So festigt sich in der Tat der Eindruck, dass die Lektüre nicht ganz uninteressant war, dass aber nicht wirklich etwas verpasst worden wäre, hätte man nicht nach dem Roman gegriffen.

Doch noch etwas!

Alfred Ploetz‘ letztes großes Forschungsprojekt bestand in dem groß angelegten Versuch nachzuweisen, dass Alkoholmissbrauch das Erbmaterial schädige und deshalb rassehygienisch eine große Gefahr darstelle. Dazu wurden in seinem Institut tausende um tausende Kaninchen unter Alkohol gesetzt, gequält und getötet. Am Ende muss er sich eingestehen, dass seine Annahme falsch gewesen sei. Er, der bis dato strenge Antialkoholiker, hebt ein Glas Wein und trinkt „auf den Irrtum“. Drei Wochen später ist er tot. Im Erzählzusammenhang verdeutlicht diese Schlussepisode im Leben des Alfred Ploetz den ganzen Zynismus einer Weltanschauung, dessen Repräsentant er ist. Eine kleine Episode, aber sie weckte schlagartig Erinnerungen.

In dem Ort, in dem ich aufwuchs, lebte eine Familie, mit der wir flüchtig bekannt waren. Die Familie hatte zwei Kinder, darunter eine Tochter mit schwerer geistiger Behinderung und zusätzlichen Einschränkungen im motorischen Bereich. Als ich ein Kind war, irgendwann wohl in den späten 60er Jahren, wurde ich Ohrenzeuge eines Gesprächs unter Erwachsenen, darunter mein Vater, in dem man, ich weiß nicht mehr, warum, auf diese Familie zu sprechen kam. Dabei stellte man Spekulationen über die Ursache der Behinderung des Mädchens an. In diesem Zusammenhang fiel der Satz – und ich hoffe sehr, dass die Erinnerung nicht trügt und er nicht von meinem Vater kam -: „Im Suff gezeugt.“ Den abfälligen Ton dieser Aussage kann ich heute noch hören, und die Stimme, die ich höre, ist eben nicht die meines Vaters. Den Inhalt des Gesagten verstand ich damals nicht. Aber der Klang der Worte sagte mir, dass da etwas mit dem Mädchen etwas Unanständiges passiert sein musste. Da war sie, klammheimlich, unreflektiert, dumpf und verächtlich, die Hypothese vom genverändernden Alkoholmissbrauch. Unwillkürlich tauchte die Erinnerung daran auf, als in Ikarien der vollkommen sinnlose Kaninchenmassenmord lapidar als Irrtum beiseite geschoben wurde. So bleibt diese literarische Reflexion über Vorurteilsbildung nach der Lektüre von Ikarien dann doch und weist auf die Beharrlichkeit einer zynischen Vorstellung, die man heutzutage euphemistisch wohl postfaktisch nennt.


Uwe Timm: Ikarien. Roman. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2017 (24.- €)